Von Krise zu Krise
Somalia ist ein Buch mit sieben Siegeln. Für die einen ist es ein Land, das nach über 20 Jahren Regierungslosigkeit in Anarchie und Gewalt versunken ist, ein Nomadenstaat, in dem noch heute Clanzugehörigkeiten über Recht und Gesetz stehen. Für die anderen stellt Somalia eine Brutstätte des militanten Islamismus dar, ein Heimathafen der Piraterie, Brennpunkt von Hungerkatastrophen.
Marc Engelhardt hat zwischen 2004 und 2010 das krisengeschüttelte Land am Horn von Afrika mehrfach besucht und sich vor Ort ein Bild gemacht. In seinem Buch versucht er, die vielschichtigen politischen und militärischen Konflikte des Landes historisch aufzuarbeiten und zu analysieren.
Ein Land zwischen Terror und Chaos
Zu Beginn seines journalistsich gehaltenen Buchs zeichnet der langjährige Afrikakorrespondent den schwierigen Weg des Landes seit der Unabhängigkeit 1961, der anschließenden langjährigen Diktatur Siad Barres bis hin zu dessen Vertreibung im Jahr 1991 durch Rebellengruppen. Was folgt ist ein 13 Jahre langer Bürgerkrieg, verbunden mit Terror und Chaos: Warlords kämpfen um die Macht in Staat und Gesellschaft, die organisierte Kriminalität floriert, insbesondere der Drogen- und Waffenschmuggel.
Zum Schrecken vieler westlicher Industrienationen erfährt auch die Piraterie einen gewaltigen Aufschwung, die im halbautonomen Puntland im Nordosten Somalias sogar schon bald den wichtigsten Wirtschaftssektor darstellt. Von den Lösegeldern profitieren selten die Piraten selbst, sondern vielmehr die mächtigen Hintermänner. Auch Clanführer, Politiker, Islamisten und sonstige Machthaber streichen ihre Anteile ein.
Die Präsenz internationaler Marineschiffe im Golf von Aden alleine reicht nicht aus, um der Lage Herr zu werden. Kein Wunder, urteilt Engelhardt: "Endgültigen Frieden auf See wird es erst geben, wenn Frieden, Stabilität und ein bisschen Wohlstand in Somalia herrschen. Doch niemand will die Konsequenzen ziehen." Eine Bodeninvasion könne die Piraterie schnell und effizient eindämmen – doch keine westliche Armee wolle das Leben ihrer Soldaten in einem Bodenkrieg riskieren.
Der Aufstieg der Al-Shabaab-Milizen
Auf der politischen Machtbühne findet im Juni 2006 ein Wechsel statt: Der "Union Islamischer Gerichte" gelingt es, die Warlords aus Mogadischu zu vertreiben. Tatsächlich kehren für kurze Zeit Stabilität und Sicherheit zurück, die Bevölkerung atmet auf. Die von Europa geforderten Verhandlungen mit der 2004 eingesetzten Übergangsregierung lehnt diese strikt ab. Rückendeckung erhält sie vom Nachbar Äthiopien und den USA, die das Schreckgespenst einer drohenden "Talibanisierung" Somalias an die Wand malen.
Wenige Monate später marschieren äthiopische Truppen in Somalia ein und vertreiben die "Union Islamischer Gerichte", was international auf Kritik stößt: "Die Islamisten haben in Somalia für weitaus mehr Sicherheit gesorgt als über ein Jahrzehnt zuvor. Es gab kein Anzeichen, dass die Islamischen Gerichte politisch hätten gefährlich werden können", zitiert Engelhardt den Islamwissenschaftler Ali Mazrui.
Auf Äthiopiens völkerrechtlich umstrittenen Einmarsch folgt zwangsläufig eine Radikalisierung der Islamisten und letztlich die Eskalation der Gewalt. Äthiopische und somalische Soldaten sowie ugandische Truppen der AMISOM-Mission der Afrikanischen Union stehen nun islamistischen Milizen gegenüber, allen voran den Al-Shabaab, die mit verschiedenen Clans kooperieren.
Die Präsenz ausländischer Truppen verschafft den militanten Islamisten zunächst Rückhalt in der Bevölkerung, bis Ende 2008 haben sie fast ganz Somalia unter ihrer Kontrolle. Im Mai 2009 beginnt der Kampf um Mogadischu, der die nachfolgenden zwei Jahre anhält und die Zahl der Zivilopfer und Flüchtlinge dramatisch steigt.
Im Fadenkreuz der scheinbar Benachteiligten
"Vermutlich wird nirgendwo auf der Welt so dringend dauernd Hilfe benötigt wie in Somalia", betont Engelhardt. Vier Millionen Somalis gelten den UN zufolge als hilfsbedürftig, die über zwei Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern nicht einberechnet. Nicht nur der anhaltende Bürgerkrieg, sondern auch die durch den Klimawandel verursachte Häufung von Dürren und Hungerkatastrophen gefährdet das Leben der Bevölkerung. 2011 starben Zehntausende an den Folgen der Hungersnot am Horn von Afrika.
Die humanitäre Hilfe in Somalia stand jedoch nicht nur vor der Herausforderung, dass sie in Gebieten operieren musste, in denen Gewalt herrschte und das Risiko bestand, dass ausländische Mitarbeiter entführt werden. Es tat sich auch ein politisches Dilemma auf: "Wer Nahrungsmittel liefern kann, hat die Bevölkerung schnell auf seiner Seite", meint Engelhardt.
Die Helfer müssen neutral sein und mit allen Seiten zusammenarbeiten. "Wenn Hilfe irgendjemandem parteiisch erscheint, geraten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen schnell ins Fadenkreuz der angeblich Benachteiligten – wortwörtlich".
Die meisten ausländischen Mitarbeiter koordinieren ihre Arbeit von Nairobi aus und sind auf die Unterstützung somalischer Mitarbeiter vor Ort angewiesen, die selbst in ständiger Gefahr schweben. Vor allem radikale Islamisten verdächtigen sie oft der Spionage für den Westen und lassen sie gezielt töten.
Kleine Helden
Im August 2011 wurden die AMISOM-Truppen aufgestockt, die militanten Islamisten zogen sich anschließend aus Mogadischu zurück. Den Rückhalt bei den Somalis hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt wegen ihrer strengen Auslegung der Scharia und der Terrorisierung der Zivilbevölkerung bereits längst verspielt. Zeitgleich marschierten im Süden kenianische Truppen ein, im Zentrum kämpfte die äthiopische Armee. Ende September wurde Kismayo, die letzte Hochburg der Al-Shabaab, eingenommen.
Die islamistische Bedrohung scheint damit vorerst gebannt zu sein. Doch hat Somalia nun das Schlimmste überstanden? Engelhardts Hoffnung richtet sich auf die Zivilbevölkerung: "Die somalische Bevölkerung wartet seit mehr als zwei Jahrzehnten darauf, dass der Frieden zurückkehrt. Sie haben durchgehalten, aber jetzt dringen sie auf den Wandel. Es wird kein leichter Weg, doch die kleinen Helden machen Mut und Hoffnung, dass das dritte Jahrzehnt nach der Flucht Barres anders werden kann als die beiden vorhergehenden."
Diese kleinen Helden sind es auch, denen Engelhardt sein Buch widmet. Oft lässt er sie zu Wort kommen und stellt ergreifende und bedrückende Einzelschicksale dar. Die Vielzahl der Stimmen kann gelegentlich verwirren, gibt den Berichten jedoch ihre Authentizität.
Auffällig ist Engelhardts kritischer Blick auf das Scheitern der westlichen Politik am Horn von Afrika, insbesondere die militärischen und diplomatischen Fehler. Auch habe der US-Militäreinsatzes in den 1990er Jahren nicht dem Sturz der Warlords, sondern der Sicherung von Erdlölförderungs-Abkommen in der Ära Barre gegolten.
Laura Overmeyer
Marc Engelhardt: "Somalia: Piraten, Warlords, Islamisten", Verlag Brandes & Apsel 2012, 248 Seiten, ISBN 978-3-86099-892-2
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de