Nasrallah auf den Pigeon Rocks
Ein Streit um die Pigeon Rocks in Beirut hat in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt – doch es geht um mehr als die berühmten Felsen vor der Küste der Hauptstadt. Es geht, könnte man sagen, um die Souveränität des libanesischen Staates.
Die Hisbollah wollte am 25. September an den ersten Todestag von Hasan Nasrallah und an seinen Nachfolger Hashem Safieddine erinnern und ihre Porträts auf die Pigeon Rocks projizieren. Nasrallah, der langjährige Generalsekretär der Partei, war bei einem israelischen Luftangriff Ende September 2024 getötet worden; Safieddine wenige Tage später.
Libanons Premierminister Nawaf Salam untersagte die Videoprojektion auf dem nationalen Wahrzeichen – doch die Hisbollah ignorierte das Verbot. Daraufhin ließ Salam einige Personen, die für diese Machtdemonstration mutmaßlich verantwortlich waren, verhaften und Ermittlungen einleiten.
Die Tageszeitung an-Nahar kommentierte, es müsse als gezielte Provokation gewertet werden, dass sich die Hisbollah über das Verbot hinwegsetzte und die Gedenkfeier an diesem symbolträchtigen Ort durchführte, der nicht im Einflussgebiet der Partei, sondern im Herzen von Beirut liege. Die Partei nutze die Aktion als Mittel, um zu zeigen, dass sie im Land tun und lassen könne, was sie wolle.
Der Streit fand statt vor dem Hintergrund der weitaus wichtigeren Debatte um die Entwaffnung der Hisbollah, die im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens mit Israel im November 2024 beschlossen worden war. Am 5. September 2025 stimmte die libanesische Regierung einem konkreten Plan der Armee zu, der die schrittweise Konfiszierung und Zerstörung aller Waffen der Hisbollah im Land vorsieht.
Infiltrated but strategically undefeated
Hezbollah may have been infiltrated by Israel, but it is far from defeated. Its most powerful missiles are yet to be deployed. To prevent the situation from spiralling completely out of control, look to Gaza.
Die Aktion an den Pigeon Rocks lässt sich als trotzige Antwort auf diesen Plan lesen. So fragte ein anderer Artikel, ebenfalls in an-Nahar:
„Im Libanon, der unter der Schwäche des Staates und der Aushöhlung seiner Institutionen leidet, erscheint jeder Versuch, das Waffenmonopol wiederherzustellen, wie ein heikler Wendepunkt, insbesondere, weil die größte Herausforderung eine bewaffnete Organisation darstellt, die sich jedem noch so unbedeutenden Regierungsbeschluss widersetzt, wie im Falle der Pigeon Rocks. Was, wenn die Beschlüsse eine ganz andere Größenordnung haben und die Konfiszierung von Waffen betreffen?“
Für den Chef der christlichen Kataeb-Partei, Sami Gemayel, steht fest:
„Die Frage heute lautet: Gibt es einen [libanesischen] Staat oder nicht? Wird die Hisbollah die Bedingungen des Staates akzeptieren oder sich weiterhin über diese stellen? Unser Kampf gilt der Entwaffnung, nicht der Beleuchtung der Felsen von Raouche [der Pigeon Rocks].“
Shebaa-Farmen als Legitimation für bewaffneten Widerstand
Die Frage, ob die Hisbollah ihre Waffen behalten wird oder nicht, beschäftigt die libanesische Politik seit Jahrzehnten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs (1975–90) wurde der Hisbollah im sogenannten Taif-Abkommen ein Sonderrecht eingeräumt: Während alle anderen Milizen entwaffnet werden sollten, durfte die Hisbollah ihre Waffen behalten, um Widerstand gegen die israelische Besatzung des Südlibanon leisten zu können.
Auch als die israelische Armee im Jahr 2000 abzog, hielt die Hisbollah an ihrer Sonderrolle fest, mit Verweis auf die von Israel besetzten Shebaa-Farmen im Grenzgebiet zwischen Israel, Libanon und Syrien.
Obwohl das Gebiet mit einer Fläche von rund 22 Quadratkilometern, gelegen in den Golan-Höhen, vor der israelischen Annexion 1981 von Syrien verwaltet wurde, widersprach das Assad-Regime der Behauptung der Hisbollah nie, dass das Land zum Libanon gehöre. So diente die international nicht anerkannte israelische Annexion der Hisbollah als Legitimation, den bewaffneten Kampf fortzusetzen.
The postwar that never was
Fifty years since its outbreak, Lebanon's Civil War continues to shape its society and political system. The postwar era has been marked by violence, foreign occupation, political paralysis and economic crisis—raising the question: did the war ever truly end?
Dies zeigt die paradoxen Existenzbedingungen der Hisbollah: Sie braucht Israel als Feind, der den Widerstand (arab. muqawama) notwendig macht. Den Libanes:innen muss sie stets aufs Neue die Gefahr vor Augen führen, die von Israel ausgeht.
Wahlerfolge nach Junikrieg 2006
Im Sommer 2006 ging diese Rechnung auf: Die Hisbollah provozierte mit der Entführung zweier israelischer Soldaten und der Tötung dreier weiterer eine israelische Militärintervention. Bis zu 1.300 Libanes:innen starben bei den Vergeltungsschlägen der IDF (Israeli Defense Forces), fast eine Million befand sich zwischenzeitlich auf der Flucht.
Trotz der Verwüstung, die der Krieg anrichtete, beanspruchte die Hisbollah den Sieg für sich. Wenige Wochen nach Kriegsende verkündete sie, ihre Waffen nicht abzugeben, wie in UN-Resolution 1701 (2006) beschlossen. So konnte sie sich als unbesiegbar darstellen und in den Folgejahren erhöhte Zustimmungswerte und Wahlerfolge verzeichnen.
Es ist naheliegend, dass die Hisbollah ein ähnliches Kalkül verfolgte, als sie nach dem 7. Oktober 2023 angeblich aus Solidarität mit den Palästinensern anfing, Raketen in Richtung Israel zu schießen. Keins der Geschosse hat auch nur einem einzigen Palästinenser geholfen; dass Israel mit Vergeltungsschlägen reagieren würde, war hingegen absehbar. Lediglich das Ausmaß der israelischen Angriffe auf den Süden des Landes, die südlichen Vororte von Beirut und andere von Schiiten bewohnte Regionen übertraf alle Befürchtungen.
Innenpolitisch unter Druck
Bei den israelischen Angriffen wurden die klügsten Köpfe und die gesamte militärische Führung der Hisbollah getötet. Der neue Generalsekretär, Naim Qassem, hat nicht dasselbe Format wie Nasrallah. Er ist weniger charismatisch, rhetorisch weniger begabt und gilt als stärker von Teheran abhängig. Zusätzlich hat der Fall des Assad-Regimes in Syrien im Dezember 2024 die Hisbollah geschwächt.
Assad hatte die Hisbollah über Jahre mit Waffenlieferungen unterstützt und zu ihren Gunsten politisch Druck ausgeübt, etwa bei Wahlen des libanesischen Staatspräsidenten. Im Gegenzug entsandte die Hisbollah Kämpfer zur Niederschlagung der Aufstände gegen das Regime nach Syrien – bis der Krieg gegen Israel die Kräfte der Hisbollah band.
Der neue Führer in Damaskus, der sunnitische Ahmad al-Sharaa, gab im Dezember 2024 bekannt, er würde bei den libanesischen Präsidentschaftswahlen nicht intervenieren. Nach drei Jahren internen Machtkämpfen um das Amt des libanesischen Staatsoberhaupts zog sich daraufhin der von der Hisbollah aufgestellte Kandidat zurück und die Partei kündigte an, eine Wahl des gegnerischen Kandidaten nicht per Veto zu verhindern.
Stepping out of Nasrallah's shadow
Naim Qassem is a veteran of Hezbollah in Lebanon. A member since its foundation, he could never escape the shadow of Nasrallah. Now, he's the boss, and a man the Israeli government says is living with a death sentence.
So konnte das Parlament am 9. Januar 2025 Joseph Aoun zum Präsidenten wählen und wenige Tage darauf einen neuen Ministerpräsidenten, Nawaf Salam. Beide gelten als Hoffnungsträger für das ökonomisch und vom Krieg geschwächte Land. Gemessen werden sie unter anderem daran, ob unter ihrer Führung die Entwaffnung der Hisbollah gelingt oder nicht.
Israelische Verstöße gegen Waffenstillstand
„Wir werden die Waffen, die uns (…) vor unserem Feind schützen, nicht aufgeben“, verkündete Hisbollah-Generalsekretär Naim Qassem am 25. August 2025. „Wenn diese Regierung in ihrer jetzigen Form fortbesteht, kann ihr nicht zugetraut werden, die Souveränität des Libanons zu schützen.“
Die Souveränität des libanesischen Staates wird momentan von den andauernden Verstößen der israelischen Armee gegen das Waffenstillstandsabkommen, der Besetzung von zahlreichen Dörfern in der Grenzregion sowie von israelischen Drohnen, die fast täglich über Beirut und anderen Orten kreisen, in Frage gestellt.
Gleichzeitig spielen die fortgesetzten Angriffe der IDF auch auf zivile Infrastruktur der Hisbollah in die Hände. Israel verhindert anscheinend gezielt den Wiederaufbau und die Rückkehr der zigtausend Binnenvertriebenen in ihre Heimatdörfer im Südlibanon. Und so lange von Israel eine konkrete Gefahr für die Libanes:innen ausgeht, besteht der Wunsch nach einer schützenden Hand, insbesondere in den am stärksten betroffenen schiitischen Gegenden.
Allerdings hat die Hisbollah mit ihrer eigenen Armee, ihrem Sicherheitsapparat und der Sabotage demokratischer Prozesse in den vergangenen Jahrzehnten die Souveränität des libanesischen Staates selbst systematisch untergraben. Sie gedeiht auf dem Nährboden eines schwachen Staates, dessen Defizite, vor allem in der militärischen Verteidigung, sie auszugleichen verspricht.
Waffenlager zerstört
Im Oktober wurden erste Berichte veröffentlicht, dass die libanesische Armee tatsächlich Waffenlager der Hisbollah zerstört. Die Depots würden mit Hilfe von Informationen des israelischen Geheimdienstes ausfindig gemacht. So viele seien bereits zerstört worden, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass der dafür benötigte Sprengstoff knapp geworden sei und die Sprengungen pausieren müssten.
Auch wenn noch unklar ist, ob der libanesischen Regierung die Durchsetzung des Waffenmonopols gelingen wird, standen die Chancen auf Erfolg seit dem Ende des Bürgerkriegs vor 35 Jahren noch nie so gut.
Dementsprechend kommentierte der zum Reformbündnis Khatt Ahmar („Rote Linie“) gehörende libanesische Abgeordnete Waddah Sadek den Streit um die Pigeon Rocks mit den Worten:
„Wenn sich das Narrativ [der Hisbollah] von der Vernichtung Israels auf die Projektion eines Bildes auf die Felsen von Raouche verlagert, während Israel seine täglichen Angriffe und Morde fortsetzt, befindet sich die Partei in einer politischen Führungskrise und muss ihre Berechnungen überdenken.“
Dieser Logik folgend, kann der Streit um die Gedenkveranstaltung an den Pigeon Rocks auch als Rückzugsgefecht der angeschlagenen Hisbollah gedeutet werden.
© Qantara.de