Verschenktes Potenzial

Sie haben erfolgreich studiert, sind bilingual und in zwei Kulturen heimisch: Die türkischstämmigen Akademiker in Deutschland. Eine Studie legt nun erstmals Zahlen zu dieser Bildungselite vor und bringt überraschende Erkenntnisse zu Tage. Nimet Seker informiert

Studenten im Hörsaal der Universität Kassel; Foto: AP
Die Ergebnisse der TASD-Studie sorgten für Aufregung. Viele der türkischstämmigen Akademiker in Deutschland empfinden die Integrationspolitik als nicht glaubwürdig, und viele von ihnen wollen emigrieren.

​​Die Türken in Deutschland gelten in der Regel als bildungsfern, sozial schwach und schlecht integriert. So die öffentliche Wahrnehmung. Da scheint die Existenz einer Bildungselite manchen doch abwegig.

Gibt es sie überhaupt, die türkischstämmige Bildungselite? Ja, es gibt sie. Aber es gibt kaum Zahlen über sie. Schätzungen gehen von etwa 24.000 türkischstämmigen Studierenden in Deutschland aus – eingebürgerte Türken sind darin nicht enthalten. Über die Gesamtheit türkischer Akademiker sind keine Zahlen erhältlich. Man weiß also wenig über sie.

Um diese Wissenslücke zu schließen, hat das "futureorg Institut für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung" die so genannte TASD-Studie gestartet. TASD steht für "Türkische Akademiker und Studierende in Deutschland".

"Es herrscht eine tiefe Kluft der Unkenntnis über Türken in Deutschland", berichtet Kamuran Sezer, Leiter der Studie. "Die türkische Community wird von vielen als eine homogene Gruppe wahrgenommen – das betrifft Themen wie Religion, politische Einstellungen, Heimatverständnis und Konsum."

"Jung, gut und unerwünscht"

Diese Gruppe sei aber alles andere als homogen. Die Studie zeigt am Beispiel von Akademikern und Studenten, dass unter Deutschtürken große Unterschiede existieren. 254 Teilnehmer wurden zu unterschiedlichen Aspekten ihrer Lebenssituation befragt.

Schon die Zwischenauswertung brachte einige überraschende Ergebnisse zu Tage: 80 Prozent bescheinigten der deutschen Integrationspolitik eine geringe bis fehlende Glaubwürdigkeit. 38 Prozent gaben an, in die Türkei auswandern zu wollen. 41 Prozent davon begründeten ihre Emigrationsbereitschaft mit "fehlenden Heimatgefühlen für Deutschland".

Diese Zahlen lösten in den Medien ein starkes Interesse an türkischstämmigen Akademikern aus, ausgewanderten genauso wie derzeit noch hier studierenden. "Jung, gut und unerwünscht", schrieb etwa das Magazin DER SPIEGEL: Hochqualifizierte türkischstämmige Akademiker wanderten aus Deutschland aus, weil sie sich missachtet fühlten und in anderen Ländern bessere Karrierechancen bestünden.

"Wenn ein türkischer Akademiker vier Mal mehr Bewerbungen schreiben muss als ein Deutscher mit gleicher Qualifikation, frustriert das. Dann hinterfragt man das und entwickelt eine gewisse Skepsis gegenüber Deutschland", resümiert Sezer. Die ernüchternden Zahlen beziehen sich auf eine Studie der OECD von 2007.

Brücke zur deutschen Gesellschaft bricht weg

Türkischstämmige Akademiker haben das selektive deutsche Bildungssystem erfolgreich durchlaufen. Die Mehrheit von ihnen stammt aus bildungsfernen Arbeiterfamilien, die ihre Kinder meist nur finanziell unterstützen konnten. Der Weg zum Abitur und zum Hochschulabschluss ist lang und mühsam. Wer es schafft, muss Hartnäckigkeit, Fleiß und Ausdauer beweisen.

Gerade deswegen nehmen türkischstämmige Akademiker einen bedeutenden Stellenwert für die Integration ein. Sie sind Multiplikatoren und Meinungsführer innerhalb der türkischen Community, die sie beeinflussen und prägen. Aber genau jene Qualifizierten, die eine Brücke zur deutschen Gesellschaft schlagen können, verschwinden zusehends.

Kamuran Sezer; Foto: privat
"Deutschland muss sich fragen, wieso sich so viele türkische Akademiker nicht mit diesem Land identifizieren können", sagt Kamuran Sezer, Leiter der TASD-Studie.

​​"Beabsichtigen Sie, in den nächsten Jahren in die Türkei zu ziehen?", lautete eine weitere Frage in der Studie. Hätte man die Frage anders formuliert, nämlich dahingehend, ob der Wunsch besteht, ins Ausland zu ziehen – etwa in Länder, die Talente abwerben, wie z.B. Kanada, Australien, England oder die Vereinigten Arabischen Emirate –, dann wäre der Anteil der Auswanderungswilligen wohl noch höher ausgefallen, so Sezer.

Fehlende Identifikation?

Das "Futureorg Institut" arbeitet derzeit an der Endauswertung der Studie. Ein Ergebnis hat Sezer besonders überrascht: Die meisten Auswanderungswilligen sind offenbar weiblich. Dies ist erstaunlich, da viele junge Türkinnen sich durch das Studium in Deutschland Freiräume geschaffen haben und Freiheiten genießen, die in der konservativeren Türkei nicht unbedingt selbstverständlich sind. Warum also in ein Land auswandern, das Frauen nicht so viele Möglichkeiten eröffnet wie Deutschland?

"Deutschland muss sich fragen: Warum können viele türkischen Akademiker, die das deutsche Bildungssystem erfolgreich durchlaufen haben, sich nicht mit diesem Land identifizieren, das ihnen das Studium ermöglicht hat?", fragt Sezer.

Die Studie widmet sich auch dem religiösen Selbstverständnis dieser Zielgruppe. Ein Großteil der Befragten ist dem Kemalismus und der säkularen Republik Türkei gegenüber positiv eingestellt, bezeichnet sich gleichzeitig aber auch als sehr gläubig. Das erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch. Offensichtlich verbinden aber die Befragten Säkularismus mit Religiösität.

Die Mehrheit wiederum nimmt es mit der Ausübung der Religion nicht so streng. So achten wenige beim Fleischkonsum auf so genannte halal-Produkte, viele gehen unregelmäßig zum Freitagsgebet. Auch das ist kein Widerspruch: Der Islam ist hier als identitätsstiftender Faktor zu sehen.

Die deutsche Politik hat in den vergangenen Jahren sicher viel für die Integration geleistet, jedoch das Potenzial der Bildungseliten mit Migrationshintergrund kaum vollständig wahrgenommen und genutzt. Dabei sind es gerade die Akademiker mit Migrationshintergrund, die eine Brücke zwischen Migranten und Deutschen schlagen könnten.

Nimet Seker

© Qantara.de 2008

Dieser Artikel entstand im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Meeting the Other" mit dem Online-Magazin babelmed.net im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs. Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie hier

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