Von der Vereinbarkeit islamischer und universeller Werte

Im Kampf um eine Verbesserung ihrer rechtlichen Lage haben Frauen in Nordafrika inzwischen beachtliche Fortschritte erzielt. Sie stehen damit in der arabischen Welt an der Spitze im Kampf um individuelle Rechte und Gleichberechtigung, wie Fatima Sadiqi berichtet.

Fatima Sadiqi; Foto: privat
Fatima Sadiqi, Professorin für Linguistik und Gender-Studien sowie UN-Expertin für Gender-Fragen, beschäftigt sich bereits seit Jahren mit der rechtlichen Situation von Frauen in den Maghrebstaaten.

​​Die juristische Lage der Frau in den maghrebinischen Staaten, insbesondere der Zugang zur Rechtshilfe, wurde durch die neuen Familiengerichte im Zuge des marokkanischen Familiengesetzes von 2004 wesentlich verbessert.

Wenn Frauen heiraten, können sie nun – so regelt es der Artikel 49 des Gesetzes – weiterhin im Besitz ihres Eigentums bleiben. Dafür sieht das Gesetz einen separaten Vertrag neben dem Ehevertrag vor, was auch dem islamischen Recht nicht widerspricht, das nicht verbietet, dass Frauen die alleinige Verfügungsgewalt über ihr Eigentum behalten und keine Verpflichtung vorsieht, es mit ihren Ehemännern zu teilen.

Hinzukommt, dass mit Ausländern verheiratete Mütter in Marokko und Tunesien nun ihre Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben können – ein Privileg, das bisher den Männern vorbehalten war.

Fortschritte bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt

Die Maghrebländer haben zudem beachtliche Fortschritte bei der Bekämpfung der häuslichen Gewalt gegen Frauen gemacht. Fast alle arabischen Staaten haben die wichtigste internationale Konvention unterschrieben, nämlich das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ("Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women") – mit Ausnahme einiger Artikel, die einer wortwörtlichen Auslegung des islamischen Rechts widersprachen. Marokko jedoch stimmte der Übereinkunft in Gänze zu.

Auch in der Wirtschaft und der Wissenschaft treten die Frauen des Maghreb immer selbstbewusster in Erscheinung. Die Bildung von Kindern und Jugendlichen verbessert sich im ganzen Land und auch die Frauen verlangen mehr und mehr nach einem Zugang zu standardisierten Bildungsmöglichkeiten.

Frauen in Kuwait; Foto: dpa
Politische Erfolge für Frauen auch in Ländern des Maschrek, wie zum Beispiel Kuwait: Massuma el Mubarak (zweite von rechts im Bild) triumphiert mit ihren Anhängerinnen über ihren Einzug ins Parlament im Mai 2009.

​​ Frauen stehen häufiger Unternehmen vor und sind heute in der Lage, ihren Beruf freier zu wählen. Gesetze gegen sexuelle Belästigung sorgen dafür, dass sie sich am Arbeitsplatz sicherer fühlen können. Auch haben Frauen heute besseren Zugang zu Kliniken und sind unabhängiger, was ihre medizinische Versorgung betrifft.

Wie das Journal of African and Asian Studies berichtet, sind die Fertilitätsraten in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gesunken: von rund sechs Kindern auf eine Frau während der 1970er Jahre Marokko, Tunesien und Algerien bis ungefähr zwei heute. Dies sind eindrucksvolle Zahlen. Der Maghreb vollzog damit in nur 25 Jahren das, was in Frankreich fast 200 Jahre lang gedauert hat.

Politische Partizipation und Bürgerrechte

Die Frauen im Maghreb haben auch wesentliche Fortschritte im politischen Bereich erzielt. Sie können heute ihre politischen und Bürgerrechte viel wirkungsvoller wahrnehmen, da mehr und mehr Frauen in die nationalen Parlamente einziehen (43 in Tunesien, 34 in Marokko und 30 in Algerien). Auch in den Gemeinderäten finden sich heute sehr viel mehr Frauen, in Marokko sind es nicht weniger als 3.406 von ihnen.

Nicht-Regierungsorganisationen spielten eine wichtige Rolle, als es darum ging, die Frauenrechte in der Maghreb-Region zu verbessern. Ihnen fiel insbesondere die Aufgabe zu, eine Verbindung zwischen den Bewegungen an der Basis und denen auf nationaler Ebene herzustellen, die es den Aktivistinnen ermöglicht, Informationen zu verbreiten und unterschiedlichste Gruppen zu mobilisieren, um neue, frauenfreundliche Gesetzgebungen und Garantien zu erzielen.

Kooperationswillen der Regierungen

Marokkanische Aktivistinnen für Menschenrechte; Foto: DW
Vorbild auch für Frauen aus den konservativen islamischen Staaten: Vieles lässt sich vor allem von den Erfahrungen von Frauenrechtsaktivistinnen aus Marokko lernen, meint Fatima Sadiqi.

​​Unterstützungsnetzwerke wie Anaruz, die Dachorganisation der marokkanischen Frauenorganisationen, werden immer stärker – trotz der konservativen gesellschaftlichen Normen des Landes.

Frauenrechtsorganisationen und einzelne Aktivistinnen halfen der Regierung, die Rechte für alle Frauen stetig zu verbessern, worin der Staat zunehmend einen Weg sieht, die Gesellschaft insgesamt im Sinne des Fortschritts voranzubringen.

Eine andere Lektion, die aus den Erfahrungen in Marokko und Tunesien gezogen werden kann, ist das Feld, das mittlerweile Gender- und Frauenstudien an einigen Universitäten eingeräumt wird. Durch diese akademischen Programme konnte nicht nur soziale Wahrnehmung verändert werden, sondern auch Strukturen, die der Gleichberechtigung bisher im Wege standen.

Einer der Hauptgründe für den langsamen Fortschritt bei den Frauenrechten in anderen arabischen Staaten ist eine unbegründete Furcht den Konservativen, dass das Zugeständnis vollständiger Geschlechtergleichheit einer Übernahme westlicher Werte und einer Abkehr von islamischen Werten gleichkäme.

Neuinterpretation des Islam

Befürworter dieser Rechte im Maghreb haben jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Wurzeln ihrer Probleme das patriarchale System und die sozialen Normen darstellen, nicht jedoch der Islam selbst.

Frauenrechte sind tatsächlich sehr gut mit dem Geist des Islam vereinbar, so wie auch mit universellen Werten. Die islamische Rechtsprechung kennt die Tradition des idschtihad, eine unabhängige und kontextorientierte Auslegung des Koran; ebenso wie die hadithe, die Überlieferungen der Aussagen des Propheten, die es ermöglichen, die Kultur als ein sich veränderndes Konzept zu begreifen.

Die Länder des Maghreb streben nach einer Neuinterpretation des Islam. Dies erreichen sie mit ihren neuen Familiengesetzen, die den modernen, sozialen Kontext berücksichtigen – ohne dabei islamische Werte aufzugeben.

Tradition und Modernität schließen sich nicht aus. Die Zukunft der Frauenrechte im Maghreb hängt sowohl von der Arbeit der Bürgerrechtsaktivisten ab, als auch von einer fortgesetzten islamischen Rechtsreform, die sich auch auf universelle Menschenrechte gründet.

Fatima Sadiqi

© Common Ground News Service 2009

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Fatima Sadiqi ist Professorin für Linguistik und Gender-Studien sowie UN-Expertin für Gender-Fragen.

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