Ein streitbarer arabischer Aufklärer
Es mag viele Vorteile haben, dem gehobenen Damaszener Bürgertum zu entstammen. So auch den, zu allererst mit den irdischen Realitäten zu rechnen und alle Metaphysik hintanzustellen. Ein solches Kalkül ist ungemein entlastend – und zwar nicht nur, weil es die Welt berechenbar macht, sondern auch, weil es vor intellektuellen Neurosen schützt. Und Neurosen, berichtet der 1934 geborene syrische Philosoph Sadik Jalal Al-Azm, konnte man als angehender Intellektueller in den 1940er und 1950er Jahren ausgesprochen leicht bekommen.
Es brauchte nicht viel dazu, es reichte, religiöse Literatur gelesen zu haben – und dann auf laizistisch-säkulare Werke aus dem Westen zu stoßen. Das löste einen Kulturschock ersten Ranges aus. Denn was immer auch passiert, lernte man in den frommen Büchern, vom Menschen hängt es am allerwenigsten ab.
"Gott hat es so gewollt" – so lautete die Erklärung für beinahe alles, was der Fall war: das Gute und das Schlechte, das Erfreuliche und das Unerfreuliche, in Politik und Gesellschaft ebenso wie im privaten Leben, im Kreis der Familie und von Freunden. Die Vorstellung, es könnte sich auch anders verhalten, erlebten viele Menschen seiner Generation nicht anderes denn als Zumutung.
Intellektuelle Heimsuchungen
So berichtet es Al-Azm in dem vor kurzem erschienenen Band Ces Interdits qui nous hantent ("Die Verbote, die uns heimsuchen"), einer 2008 erschienenen Sammlung essayistischer und autobiographischer Texte. Er selbst habe aber das Glück gehabt, in einem großbürgerlichen Haushalt aufgewachsen zu sein, wo für Vorstellungen von Gottes Einfluss auf den Lauf der Welt kein Platz war. Es gilt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, lernte der junge Al-Azm – und für sie dann auch geradezustehen.
Mit Gott haben deine Fehler nichts zu tun, und wenn die Priester dir etwas anderes erzählen, dann höre nicht auf sie. "Diese Umstände", notiert er, "haben mich vor dem Gespenst der psychologischen und spirituellen Krise bewahrt, die mich hätte überkommen können, als ich mich für den Panarabismus und Nationalismus zu interessieren begann. Ideen, die in meiner frühen Jugend sehr verbreitet waren."
Andere erleben die politischen und kulturellen Aufwallungen der 1940er, 1950er Jahre weniger gelassen. Für sie bedeuten sie den völligen Bruch mit allem bisher Gelernten, allem bisher für selbstverständlich Gehaltenen. Die neuen Ideen mochten überzeugend sein. Aber vor allem waren sie, jedenfalls zunächst, schockierend. Viele seiner Freunde seien in eine tiefe existentielle Krise geraten, berichtet Al-Azm. Die neuen Ideen vertrugen sich mit den alten nicht, die Kluft zwischen ihnen war so tief und breit, dass sie sich kaum überbrücken ließ. "Ich kannte Fälle, in denen das zu einer nervösen Depression oder zu einem völligen Verzicht am aktiven Leben führte."
Manche Ideen waren schlicht zu radikal, als dass sie die, die sie zur Kenntnis nahmen, nicht erschaudern ließen. Fremd wie sie waren, brauchte es Zeit, sie zu verdauen. Irgendwann aber, nach einiger Zeit, ließ sich ihnen folgen. "Die meisten meiner Bekannten überwanden die Krise, um sich fortan fortschrittlicheren Gedanken anzunehmen."
Enttäuschender Nationalismus
Die Geschichte, die Al-Azm in dem Buch nur andeutet, mag einen Hinweis auf die Geburtsumstände säkularen Denkens in der arabischen Welt geben – Umstände, die zumindest gelegentlich Probleme bereiteten. Dass er diese Probleme von Anfang an nicht kannte, mag den syrischen Philosophen dazu veranlasst haben, seine Kritik an den arabischen Zuständen bis aufs Äußerste zu treiben, vor nichts und niemandem Halt zu machen, und auch den angeblich fortschrittlichsten politischen Bewegungen seiner Zeit mit tiefstem Misstrauen zu begegnen.
Was etwa, fragt Al-Azm, war der arabische Nationalismus? Eine Reaktion auf den europäischen Kolonialismus und der Versuch, die arabischen Staaten zu einen? Unbedingt. Jedenfalls war er es auch. Aber vermutlich, erklärt er, war er noch etwas anderes: der Versuch, die Jahrhunderte zuvor verlorene Rolle als Weltmacht wiederzuerlangen. Der arabische Nationalismus, erläutert Al-Azm, war nur vordergründig eine Freiheitsbewegung. Tatsächlich aber strebte er einen Platz auf der Weltbühne an.
Hohe Ambitionen, die sich aber nicht erfüllten – und schlimme Konsequenzen brachten: "So kamen die großen Illusionen zur Welt, die massiven Minderwertigkeitskomplexe, gewaltige kompensatorische Illusionen, ein wilder Abenteuergeist, eine unverantwortliche Politik und seit kurzem auch Terrorismus in großem Maßstab, an den sich die ganze Welt gewöhnt hat." Doch es ist paradox: Für diese Entwicklung, erläutert Al-Azm, ist gerade das Scheitern des arabischen Nationalismus verantwortlich – ein Scheitern, das sich genau datieren lässt: nämlich auf den Juni 1967, die Zeit des so genannten Sechs-Tage-Kriegs zwischen einer von Ägypten geführten Allianz mehrerer arabischer Staaten und Israel.
Die Niederlage machte alle hochfliegenden Pläne und den Glauben an eine säkulare Zukunft fasst über Nacht zunichte. "Und diese Lücke", erläutert Al-Azm im Interview, "füllten die religiösen Hardliner. Der Islam war die einzige Antwort, mit der sich das entstandene Vakuum füllen ließ." Doch diese Bewegung war mitnichten spontan. Hinter ihr standen mächtige Förderer: "Umgehend unterstützten Geldgeber aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten die Islamisten, die von da an immer größere Teile des öffentlichen Raumes besetzten."
Schleichender Niedergang des Islamismus
Mit Äußerungen wie diesen steht Sadik Al-Azm zwischen alle Fronten, der islamistische ebenso wie der laizistischen. Freunde hat er auf beiden Seiten nicht, jedenfalls nicht in den Reihen derer, die Politik gestalten. Als er im Frühjahr 2006 die Beirut-Damaskus-Deklaration unterzeichnet, die den Rückzug Syriens aus dem Libanon forderte, wurde er nur deswegen nicht verhaftet, weil er nicht im Lande war. Von Beirut aus, wo Al-Azm überwiegend lebt, holte er dann vorsichtige Erkundungen ein, ließ über Mittelsmänner testen, ob er es wohl wagen könne, die Heimat zu besuchen. Er konnte es, die Luft in Damaskus war wieder rein. Al-Azm ist ein Phänomen in der arabischen Welt.
Es gibt wenige Intellektuelle, die die Region, der sie entstammen, so scharf kritisieren wie er. Der Sechs-Tage-Krieg, die Fatwa gegen Salman Rushdie, die Diskussion um Edward Saids Buch Orientalism, der Irak-Krieg und der islamistische Fundamentalismus: Kaum eine Debatte in den letzten 40 Jahren, in die er sich nicht eingemischt hätte. Dem Islamismus gibt er nicht mehr allzu lange. Aber auch dem Islam selbst sagt er einen schleichenden Niedergang voraus, so wie das Christentum ihn in Europa bereits hinter sich hat.
Seine Distanz zur Religion hatte ihm 1970 bereits eine Fatwa eingetragen, die ihn zum Atheisten erklärte – für Al-Azm ein Ehrentitel –, aber nicht zur Gewalt gegen ihn ausrief. Geschützt vor dem vielfachen Unbill, meint er, hätte ihn auch seine Familienzugehörigkeit: Der Name Azm gelte in Syrien eben etwas. So ist das kühne Denken, das seine Familie ihn lehrte, bislang ohne Folgen geblieben. Auch das zählt zu den Vorteilen, aus dem gehobenen Damaszener Bürgertum zu stammen.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2009