Pflichtlektüre für den Verfassungsschutz
Ereilt islamistische Eiferer das gleiche Schicksal wie säkulare Revoluzzer, die beim langen Marsch durch die feindlichen Institutionen von diesen aufgesogen, umgeformt und zurechtgestutzt wurden und ihre umstürzlerische Rhetorik schließlich in ein wachsweiches Reformprogramm verwandelten? Der Migrationsforscher Werner Schiffauer, Professor für Kulturanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), vertritt diese These in seinem neuesten Buch, das den sprechenden Titel "Nach dem Islamismus" trägt.
Schiffauer skizziert vor dem Hintergrund einer kenntnisreichen historischen Analyse den weiten Weg der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs von einer an der Türkei orientierten antiwestlichen Organisation mit kruder islamistischer Ideologie zu einer in der Demokratie angekommenen pragmatischen Interessenvertretung deutsch-türkischer Muslime.
Diese Entwicklung sei vornehmlich die Sache junger Intellektueller, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und sowohl mit der deutschen Sprache als auch der herrschenden politischen Kultur bestens vertraut seien. Schiffauers Protagonisten sind zwar nach wie vor religiöse Muslime, schätzen jedoch das politische System der Bundesrepublik oder behaupten sogar, in Demokratie und sozialer Marktwirtschaft das islamische Ideal von Gerechtigkeit entdeckt zu haben.
So redet jedenfalls Oguz Ücüncü, der smarte Generalsekretär, der die Schiffauersche Theorie in seiner Person perfekt verkörpert. "Postislamisten" nennt Schiffauer die jungen Kader von Milli Görüs, die er gleichsam als muslimische Version der Jungen Union porträtiert, und er suggeriert mit der Nacherzählung ihrer Geschichte, dass der Islamismus sich im Kontakt mit der Demokratie selbst überwindet.
Sprachrohr der Islamisten?
Dass Schiffauers Theorie keine ungeteilte Zustimmung erfährt, kann man sich denken. Milli Görüs ist in der Vergangenheit immer wieder ins Visier von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz geraten und wird noch immer islamistischer und krimineller Umtriebe bezichtigt, darunter der Unterstützung der palästinensischen Hamas.
Im bayerischen Streit um das Vorzeigeprojekt der Moschee in Penzberg geht es um angebliche Kontakte des Imams zu Milli Görüs. Bundesinnenminister de Maizière hat darauf verzichtet, den von Milli Görüs dominierten Islamrat für Deutschland weiterhin an der von seinem Vorgänger ins Leben gerufenen Deutschen Islamkonferenz zu beteiligen.
Schiffauer, der stets zu größerer Gelassenheit im Umgang mit Milli Görüs aufgerufen hat, ist vorgeworfen worden, es mangele ihm an kritischer Distanz zu seinem Forschungsgegenstand. Er habe sich vereinnahmen lassen und sei zu einem Sprachrohr der Islamisten geworden, sei ihren Verschleierungstaktiken auf den Leim gegangen und unfähig, die Wölfe im Schafspelz zu erkennen.
Diese Kritik ist wenig überzeugend. Wissenschaftlich betrachtet, ist nämlich weder an Schiffauers Methoden noch an den Schlussfolgerungen aus seinen empirischen Daten etwas auszusetzen.
Im Gegenteil: Der Autor hat im besten ethnologischen Sinne langjährige teilnehmende Beobachtungen bei Milli Görüs durchgeführt und ist in einen Verstehensprozess eingetreten, der ihm Erkenntnisse eröffnet hat, die bei großer Distanz nicht möglich gewesen wären. Diese Beobachtungen und Erfahrungen hat er historisch und sozialwissenschaftlich auseinandergelegt und eingeordnet. All dies ist solide kulturanthropologische Arbeit.
Dass er seinen eigenen Standpunkt nicht verheimlicht und den Leser an seiner Entdeckungsreise in die unbekannte Welt der Milli Görüs teilhaben lässt, statt mit quantitativen Daten eine scheinobjektive Gewissheit zu erzeugen, entspricht der bewährten Praxis in seiner Disziplin.
Differenzierter, als seine Kritiker einräumen
Schiffauers Ansatz ist, im Lichte der internationalen Islamismusforschung betrachtet, übrigens keineswegs spektakulär. Wissenschaftler wie Gilles Kepel, Olivier Roy oder Nilüfer Göle haben bereits vor Jahren das Scheitern des politischen Islamismus festgestellt. Wie Schiffauer sehen sie junge, gut ausgebildete Unternehmer, Intellektuelle und Kulturschaffende, die den Spagat zwischen islamischen Werten und einer säkularen Moderne erfolgreich bewältigen, als Erben der fehlgeschlagenen islamistischen Revolutionen.
Ist die Aufregung um Milli Görüs übertrieben oder vielleicht sogar Ausdruck einer islamfeindlichen Haltung, die einige Migrationsforscher mit dem irreführenden Begriff "Islamophobie" bezeichnen? Schiffauer ist an dieser Stelle differenzierter, als seine Kritiker einräumen.
Er gesteht zu, dass ungewiss sei, wie groß der Einfluss der jungen Demokraten wirklich ist und in Zukunft sein wird. In der heutigen Milli Görüs unterscheidet er drei Milieus: ein konservatives Gemeindemilieu, in dem ländlich-türkische Wertvorstellungen gepflegt werden, ein Jugendmilieu, dessen Protagonisten sowohl in der Gemeinde als auch in der Mehrheitsgesellschaft aktiv sind, aber einen wenig flexiblen Oppositionsgeist pflegen, und schließlich ein postislamistisches Milieu mit reflektierten Intellektuellen, die sich für den Kontakt mit dem Wissenschaftler anboten, da sie den "Dialog mit Geisteswissenschaftlern" suchen.
Da die Postislamisten, so Schiffauer, ihren Einfluss vor allem auf der Ebene regionaler und überregionaler Arbeitskreise geltend machen, prägen sie auch die Außendarstellung der Organisation. An der Basis und in den Gemeinden dominieren jedoch die beiden anderen Milieus.
Wer sich allein über das Kopftuch echauffiert, hat vieles nicht verstanden
Problematisch ist auch das kulturelle Programm, für das Milli Görüs eintritt. Schiffauer räumt ein, dass es ein "Missverständnis wäre, zu glauben, dass das postislamistische Projekt in einen 'liberalen' Euro-Islam münden wird. Vielmehr hat man den Eindruck, dass das postislamistische Projekt seine Überzeugungskraft etwa gegenüber Kritikern aus der islamischen Welt gerade daraus ableitet, dass es einen streng rechtgeleiteten, das heißt an der Scharia orientierten Islam vertritt."
Das muss bedenklich stimmen, vor allem, wenn man internationale Vergleichsfälle heranzieht, um sich die Konsequenzen einer kulturislamistischen Strategie vor Augen zu führen. Überall dort, wo sich der kulturelle Islamismus durchsetzte, hat er die Gesellschaften nachhaltig verändert. Von Ägypten bis nach Indonesien nimmt der Normierungsdruck für Muslime zu, werden Handlungsspielräume von Frauen eingeschränkt und rigide Verhaltenskodizes erlassen.
In Deutschland versuchen Aktivisten von Milli Görüs, muslimische Mädchen vom Schwimmunterricht und von Klassenfahrten zu "befreien", und haben damit nicht selten sogar Erfolg. Dass solche Angriffe auf die in der Verfassung garantierte Gleichheit von Männern und Frauen Alarmglocken läuten lassen, ist verständlich. Kulturrelativistisch inspiriertes Gewährenlassen muss Grenzen haben, die religiöse Akteure gleich welcher Couleur respektieren müssen.
Da die Geschlechterfrage in der Integrationsdebatte eine Schlüsselfunktion hat, ist es nur natürlich, Milli Görüs auch in dieser Hinsicht genau zu inspizieren. Anstelle einfacher Antworten findet man auch hier eine irritierende Vielschichtigkeit der Ebenen.
Schiffauer hat bereits in früheren Schriften darauf hingewiesen, dass das Bildungs- und Beratungsprogramm von Milli Görüs durchaus geeignet sei, positive Veränderungen in Familien anzustoßen, die noch von absolut frauenverachtenden ländlich-patriarchalischen Vorstellungen geprägt sind. Wenn ein Mann beispielsweise seiner Frau mit religiösen Begründungen verbietet, ohne ihn die Wohnung zu verlassen, diese aber von Milli Görüs dahingehend beraten wird, dass es durchaus mit dem Islam vereinbar sei, bekleidet mit dem Kopftuch selbständig Angelegenheiten außerhalb des Hauses zu erledigen, dann muss das wohl als "Empowerment" bezeichnet werden. Wer sich allein über das Kopftuch echauffiert, hat vieles nicht verstanden.
Werner Schiffauer hat es zu seinem Programm erklärt, soziale Realitäten in ihrer Komplexität zu erkennen und diese Einsichten den Lesern seiner Bücher zu vermitteln. Mit seiner neusten Monographie ist ihm dies in bewundernswerter Weise gelungen.
Man muss seinen Schussfolgerungen nicht in jedem Punkt zustimmen - dass seine Darstellung von Milli Görüs die Diskussion um den Islam und die Integration ungemein bereichert und bestens geeignet ist, Schwarzweißmalereien zu korrigieren, kann kaum bestritten werden.
Susanne Schröter
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010
Werner Schiffauer: "Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs." Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
Redaktion. Nimet Seker/Qantara.de
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