''Es stimmt nicht, dass der Islam reformunfähig ist''
Wie würden Sie Ihre eigene Rolle beschreiben? Sehen Sie sich als Islam-Kritikerin oder eher als islamische Reformerin?
Irshad Manji: Wenn ich etwas kritisiere, dann das Verhalten, nicht die Ideale, für die der Islam steht. Das Verhalten der Muslime wird dem großzügigen, barmherzigen, gütigen Geist des Korans nicht im Ansatz gerecht. Meine Botschaft lautet, dass Allah und Liebe sehr wohl zusammenpassen und dass wir als Muslime dies mit unserem Verhalten zeigen müssen. Es ist an uns zu beweisen, dass geistige Vielfalt in unseren Reihen uns möglich ist.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, gemäßigte Muslime seien Teil des Problems und nicht der Lösung. Warum?
Manji: Weil Mäßigung in moralischen Krisenzeiten nur den Status quo festigt, wie Martin Luther King während der US-Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre klar gemacht hat. Sie stellt letztlich nicht die bestehenden Machtungleichgewichte infrage.
King sagte zu den moderaten Christen: Ihr nennt Euch zwar gemäßigt, aber seid so zaghaft, wenn es darum geht, den Mund gegen die Rassentrennung aufzumachen, die im Namen Eures und meines Gottes geschieht. Das Wort "gemäßigt" darf nicht als Entschuldigung dafür herhalten, nichts zu sagen. Im selben Geiste sage ich meinen Mitmuslimen: Wenn Ihr bloß behauptet, "Der Islam ist Frieden, glaubt uns doch", dann ist Eure Mäßigung nutzlos.
Indem Sie sich offen zu Ihrer Homosexualität bekennen, für interreligiöse Ehen aussprechen und Muslime für Probleme wie ihre Haltung zu Juden kritisieren, stoßen Sie viele Menschen vor den Kopf. Könnte all diese Provokation auch kontraproduktiv sein?
Manji: Ein erhabener Gott schafft in uns allen Einzigartigkeit. Indem wir dieser Kreativität Ausdruck verleihen, zollen wir in Wirklichkeit der Schöpferkraft Gottes Respekt. Wenn das provokativ ist, bin ich provokativ! Aber tatsächlich glaube ich, dass das etwas sehr Gläubiges ist. Denn indem wir junge Menschen ermutigen, sich mit allen ihren Eigenheiten anzunehmen, vertiefen wir unsere Beziehung mit dem, der uns geschaffen hat.
Dennoch ernten Sie zum Teil Hass und Drohungen, sogar Todesdrohungen. Könnte das abschreckend auf manche Menschen wirken, die Ihre Ideen sonst vielleicht teilen würden?
Manji: Die jungen Muslime, die ich rund um den Globus treffe, sagen mir nicht, dass sie aus Angst vor Gewalt den Mund nicht aufmachen. Sie fürchten sich vor der Ausgrenzung, dem Hohn und Spott, dem sie sich aussetzen, wenn sie notwendige, aber unbequeme Fragen stellen. Nichts ist schmerzhafter, als von den eigenen Leuten zurückgewiesen zu werden. Deshalb zeige ich, wie man das entwickelt, was Robert F. Kennedy Zivilcourage genannt hat: die Bereitschaft, um eines höheren Gutes willen den Mächtigen in der eigenen Gruppe die Wahrheit zu sagen.
Sie sind unter anderem mit Ayan Hirsi Ali verglichen worden. Was halten Sie von ihren Ideen?
Manji: Ich habe ihr klipp und klar gesagt: Ich glaube, dass Du Dich irrst. Ich halte es für falsch zu sagen, dass Gewalt im Islam angelegt sei und dass die Muslime reformunfähig seien.
Sie hat dem Islam den Rücken gekehrt, ich halte auf Gedeih und Verderb am Glauben fest. Ich habe den Glauben an meine Mit-Muslime, dass wir fähig sind, besser zu sein, als es unsere Mullahs und Imame oder selbst die Medien uns zutrauen. Ich kann nicht erkennen, dass Ayan den Glauben an diese Fähigkeit hätte.
Eine der Ideen, für die Sie sich einsetzen, ist ein allgemeiner Geist des "Idschtihad", also einer von der Tradition gelösteren Entscheidungsfindung in islamischen Glaubensfragen. Ist das nicht riskant? Denn wenn Sie den "Idschtihad" für alle öffnen und nicht nur für die traditionellen Autoritäten, tun Sie dann nicht dasselbe wie die Fundamentalisten? Dann kann doch jeder daherkommen und behaupten: Der Islam verlangt dies oder jenes.
Manji: Natürlich können die Fundamentalisten alles hinbiegen, wie es ihnen gerade passt. Aber egal, ob wir die Tore des "Idschtihad" öffnen, tun sie das doch sowieso, weil sie so arrogant sind zu glauben, dass sie die allein seligmachende Wahrheit haben. Warum sollten wir also nicht einer neuen Generation von Muslimen das Rüstzeug geben, jene Fragen zu stellen, die den Fundamentalisten zeigen: "Wir haben keine Angst vor Euch! Was Ihr nicht könnt, ist mir Eure Interpretation aufzuzwingen."
Sie sind ziemlich radikal darin, überkommene Lehrsätze infrage zu stellen. Würden Sie dabei soweit gehen zu sagen, dass man sich in bestimmten Fragen einfach über den Koran hinwegsetzen müsste?
Manji: Ich sehe keine Notwendigkeit, sich über den Koran hinwegzusetzen. Denn das geniale am Koran ist, dass er selbst einen Mechanismus enthält, der uns mahnt, unsere menschlichen Interpretationen infrage zu stellen. In Kapitel drei, Vers sieben heißt es, dass einige Verse dieses Textes - des Korans - eindeutig sind und andere mehrdeutig, und dass nur diejenigen mit Unglauben im Herzen die mehrdeutigen Stellen in den Mittelpunkt stellen, um selbst die richtige Interpretation diktieren zu können. Und weiter: Versteht, dass nur Gott, der Herr, die ganze und endgültige Bedeutung all dieser Verse kennt. Die Botschaft lautet also: Seid demütig! Schüchtert andere Menschen nicht ein und zwingt Ihnen nicht Eure Sichtweise auf. Ich glaube, das ist ein Rezept für genau den Pluralismus, der uns einen vielfältigen und friedlichen Glauben ermöglicht.
Interview: Christoph Dreyer
© Qantara.de 2011
Die kanadische Journalistin Irshad Manji wurde 1968 in Uganda als Tochter indisch- und ägyptischstämmiger Eltern geboren. International bekannt wurde sie mit ihrem 2004 veröffentlichten Buch "Der Aufbruch: Plädoyer für einen aufgeklärten Islam", in dem sie einen pluralistischen, progressiven Islam forderte. Ihr neues Buch "Allah, Liberty and Love" (Allah, Freiheit und Liebe) ist 2011 erschienen.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de