Ein Land voller Andeutungen

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Hisham Matar, in England lebender Sohn libyscher Eltern, beschreibt in seinem Debütroman "Im Land der Männer" die Kindheit eines libyschen Jungen. Das Buch ist für die Shortlist des "Man Booker Prize" 2006 nominiert.

By Georg Patzer

​​Das Leben ist ein Paradies, Suleiman ist glücklich. Er ist neun Jahre alt, es sind Ferien, er spielt mit seinen Freunden, und die Maulbeeren sind so köstlich:

"Jede Beere war wie eine Krone aus winzigen purpurnen Kügelchen. (…) Maulbeeren waren die besten Früchte, die Gott geschaffen hatte, entschied ich und ich stellte mir vor, wie junge, lebhafte Engel sich heimlich zusammentaten, um diese Frucht in den Boden der Welt zu pflanzen, nachdem sie gehört hatten, dass Adam und Eva zur Strafe hinab auf die Erde geschickt werden sollten. (…)

"Ich pflückte eine Beere, und sie zerlief mir fast in der Hand. Ich steckte sie in den Mund, und sie löste sich auf, die kleinen Kügelchen explodierten wie ein Feuerwerk. Ich aß noch eine und noch eine."

Aber das Paradies hat ein paar kleine Fehler. Viel Medizin trinkt seine Mutter, oft ist sie krank, aber nur, wenn der Vater nicht da ist. Der ist ein Geschäftsmann und reist häufig ins Ausland. Wenn er wiederkommt, ist es wie ein kleines Fest: Es gibt Geschenke, und die Mutter macht sich ein wenig schön.

Beginn der Katastrophe

Aber einmal, als Suleiman mit seiner Mutter nach Tripolis fährt, sieht er ihn plötzlich auf dem "Platz der Märtyrer". Am Abend aber ruft der Vater an und sagt, er sei im Ausland, und kommt am nächsten Tag wieder nach Hause.

Als Suleiman nicht schlafen kann, weil seine Mutter aus Versehen ihre Medizinflasche zerbricht, kriecht er zu ihr ins Bett. Dass macht er immer, wenn er Angst hat, wenn der Vater nicht da ist und die Mutter krank wird, und dann erzählt sie ihm immer Geschichten.

Später konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern und sagte: "Das hättest du nicht hören sollen." Wie sie verheiratet wurde, zum Beispiel: Als ihr Onkel sah, dass sie mit einem Jungen in einem Café Händchen hielt, wurde sie zwangsverheiratet, mit vierzehn Jahren.

Und dann beginnt die Katastrophe. Ustaz Raschid, Nachbar und Freund, wird von der Geheimpolizei abgeholt. Er soll zu einer Gruppe von Oppositionellen gehören. Etwas später gerät auch Suleimans Vater unter Verdacht.

Sein Freund Musa und Suleimans Mutter verbrennen alle Bücher und Papiere, aber eines, "Demokratie jetzt", versteckt Suleiman, weil er seinem Vater eine Freude machen will: Eines seiner Bücher für ihn retten!

Es ist eine gefährliche Zeit, kurz nach dem Militärputsch von Oberst Gaddafi in Libyen, der unter allen Umständen seine Macht festigen will: mit Verhaftungen, Folter und Unterdrückung von Andersdenkenden.

Nicht moralisierend

Was versteht ein Neunjähriger schon davon? Aus der kindlichen, unwissenden Perspektive von Suleiman erzählt Hisham Matar seine anrührende Geschichte.

Vieles wird nur angedeutet, ohne Wertung, ohne Urteil: dass Mutters Medizin wohl Alkohol ist; dass Freundschaften einem Terrorregime nicht standhalten können; dass der Junge immer wieder kurz davor ist, seinen Vater zu verraten, aus Versehen, oder weil er dem Geheimpolizisten eine Freude machen will.

Es wird nur erzählt, nicht erklärt, nicht moralisiert, nicht beurteilt oder gar verurteilt.

Lapidar wird gesagt, dass Tante Salma, Ustaz Raschids Frau, die beste Freundin von Suleimans Mutter, nicht mehr zu Besuch kommt.

Dann heißt es, dass er nicht mehr mit ihrem Sohn Karim spielen darf: "'Du solltest von diesem Jungen mehr Abstand halten", sagte sie. Vorher hatte sie nie von ihm als 'diesem Jungen' gesprochen. 'Im Moment gehst du ihm besser aus dem Weg.' (…) Wann immer ich und Karim zusammen waren, hatte ich ein schlechtes Gewissen." Die Freundschaft zerbricht.

Eine Mischung aus Unschuld und Wissen

Dass etwas Schlimmes passiert ist, bekommt man oft nur atmosphärisch erzählt:

"Als Baba tags darauf nach Hause kam, wirkte er wie abwesend. Es war jetzt acht Tage her, dass sie Ustaz Raschid geholt hatten. Baba hatte keine Geschenke mitgebracht, wie er es sonst tat, wenn er von einer Reise zurückkam. (…)

Und er war auch nicht voller Geschichten wie sonst und sagte nichts zu den Dingen, die Mama zu seiner Begrüßung vorbereitet hatte. (…) Als wir uns an den Tisch setzten, um zu essen, blieb sein gewohnter zufriedener Seufzer 'Zu Hause ist es am Schönsten' aus. Dabei hätte ich ihn mir so gewünscht, weil Mama dann immer ganz rote Wangen bekam."

​​Ganz deutlich macht Matar, dass hier einer etwas miterlebt, aber ohne es wirklich zu verstehen, ein Leben im "Land der Männer" lebt, ein Land voller Andeutungen und unverstandener Gefahren.

In dieser Mischung aus kindlicher Unschuld, jugendlicher Ahnung und späterem, erwachsenen Wissen beschreibt Matar feinfühlig und völlig ohne jegliches Pathos eine Kindheit, die kurz vor dem Abgrund steht und immer wieder ganz unschuldig einen Schritt vor dem Verrat.

Suleiman bleibt der Verrat erspart, denn als er dem Geheimdienstler das Buch bringt, hat sich das Blatt für den Vater schon gewendet, und die Namen in der Widmung kennt er auch schon.

Ein berührendes Buch

Selbst die brutalen Szenen werden fast sachlich erzählt, unterbrochen von kindlichen Einfällen und anderen Geschichten: wie etwa die Hinrichtung von Ustaz Raschid, die im Fernsehen gezeigt wird, seine öffentliche Erniedrigung, der tobende Mob, der Urin in seiner Hose, der grässliche Tod.

Oder als sein Vater heimkommt, alle Spiegel verhängt sind, und der Junge sein Gesicht nicht sehen darf.

Leider verdirbt Matar den guten Eindruck am Schluss, wo er dann doch noch gefühlig wird, als ihn nach vielen Jahren im ägyptischen Exil seine Mutter besucht.

Aber bis dahin ist es ein sehr berührendes Buch, erschreckend, sensibel und sehr atmosphärisch geschrieben. Ein Buch, in dem man einen Blick in eine Kinderseele und in eine Gesellschaft unter Belagerungszustand werfen kann.

Georg Patzer

© Qantara.de 2007

Hisham Matar: Im Land der Männer. Roman. München: Luchterhand 2007, 254 S.