"Wenn du es brauchst, nimm es mit!"
Alles soll in der nordiranischen Stadt Maschhad begonnen haben. Vor wenigen Wochen hatte jemand ein paar Haken in eine Hauswand gebohrt und dazu geschrieben: "Wenn du es nicht brauchst, lass es hier. Wenn du es brauchst, nimm es mit." Eine Botschaft an alle, die vorbeikamen. Und gleichzeitig eine Aufforderung. Die Aufforderung, zu spenden. Und die Menschen verstanden. Sie brachten Kleidungsstücke, die sie selbst nicht mehr brauchten. Für andere, die nicht genug haben. Und die bei den derzeit einstelligen Temperaturen nicht frieren sollen.
Eine simple Idee, vielleicht entstanden, weil es im Iran einen Kälteeinbruch gab. Genau weiß man das aber nicht, genauso wenig wie die Antwort auf die Frage, wer eigentlich dahinter steckt. Die ungewöhnliche Aktion selbst hat allerdings längst einen Namen. "Walls of Kindness" - "Wände der Nächstenliebe".
Die Idee verbreitet sich im ganzen Land
Und es werden immer mehr. Begleitet von lebhaften Debatten in den Sozialen Netzwerken entstehen in sämtlichen großen Städten des Landes neue "Wände der Nächstenliebe" - quasi in Echtzeit zu verfolgen: Unter "#WallofKindness" stellen Iraner Fotos von behängten Hauswänden ins Netz oder kommentieren das Ganze bei Facebook oder Twitter.
Dort schreibt beispielsweise ein User, eine so menschliche Aktion, fernab von Religion oder Politik verdiene Lob. "Wir müssen uns darüber freuen, dass Menschen noch an ihre Mitmenschen denken. Die 'Walls of Kindness' wecken sehr viel Hoffnung."
Als "großartige Initiative" wird die Idee gefeiert, Menschen auf diese Weise einander näher zu bringen. "Normalerweise erzeugen Wände Trennung, aber in diesem Fall bedeuten sie Annäherung."
Allerdings: Ausgerechnet die Tatsache, dass die Aktion so viel Aufmerksamkeit in der iranischen Internetgemeinde erfährt, könnte auch dazu beitragen, dass Scham und Angst die Bedürftigen am Ende davon abhält, der Aufforderung nachzukommen und sich zu bedienen, meint User "rzgar". "Wenn da so viele Menschen mit einer Kamera vor einer Wand der Nächstenliebe stehen, traut sich am Ende niemand mehr, von dort etwas mitzunehmen."
Tabuthema Obdachlosigkeit
Nicht nur Fotos der mit Kleidungsstücken behängten Wände kursieren im Internet. Daneben finden sich auch Bilder, auf denen beispielsweise Kinder zu sehen sind, die sich über die Kleiderspende freuen. Genau solche Schnappschüsse aber werfen ein für die Regierung von Präsident Hassan Rohani unangenehmes Schlaglicht auf ein ungelöstes Problem im Land: die Obdachlosigkeit.
Offiziell sind die Zahlen in diesem Zusammenhang niedrig: In einem Interview mit ILNA, der "Iranian Labour News Agency", erklärte Shahindokht Molaverdi, Juristin und Beraterin des Präsidenten für Frauen- und Familienthemen, landesweit gebe es rund 15.000 Obdachlose, ein Drittel davon Frauen. Hilfsorganisationen gehen britischen Medienberichten zufolge allerdings von einer höheren Zahl aus. Und unter den Betroffenen sollen auch immer mehr Kinder und Jugendliche sein.
Das grundsätzliche Problem der Armut im Land wird im Zusammenhang mit den "Wänden der Nächstenliebe" auch im Internet diskutiert. Dass die anonymen Kleiderspenden an sich eine gute Sache sind, darin sind sich die User einig. "Es ist eine tolle Aktion. Aber die Regierung sollte sich schämen, dass es in einem Land mit so viel Reichtum Leute gibt, die auf so etwas angewiesen sind. Nur: Das wird diese Regierung nicht tun, egal, wie intensiv darüber berichtet wird."
Entlarvende Bilder
Madjid Bikhile leitet das "Schousch-Haus der Kinder", eine Einrichtung, die sich um unterprivilegierte Kinder und Jugendliche kümmert. "Solche Aktionen sind eine Reaktion auf die gegenwärtige Situation im Iran und auf Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut", sagt er.
Eine warme Strickjacke gegen die winterlichen Temperaturen – diesem Mann ist die Freude über das neue Kleidungsstück deutlich anzusehen
In jedem Land gebe es Menschen, die die Not anderer nicht ignorieren wollten. "Unsere Gesellschaft braucht solche Initiativen. Gleichzeitig wissen wir aber auch alle, dass man auf diese Weise allein nicht die grundlegenden Probleme lösen kann." Das sei von Einzelpersonen nicht leistbar. Aber Entwicklungen wie die "Walls of Kindness" sind seiner Meinung nach trotzdem nicht umsonst. "Die Tatsache, dass Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten darauf reagieren und eine aktive Rolle spielen - das ist aus meiner Sicht eine große Leistung", so Bikhile.
Der Schatten des Atomstreits
Für den Iran stellte das Jahr 2015 insgesamt eine Zäsur dar: Nach 13-jährigem Ringen im Streit um das viel kritisierte Atomprogramm des Landes gelang im Juli bei den Verhandlungen in Wien ein bedeutender Durchbruch. Gemeinsam mit den UN-Vetomächten (USA, Russland, Großbritannien, China, Frankreich) und Deutschland einigte man sich auf ein Atomabkommen: Teheran stimmte einer drastischen Einschränkung seines Atomprogramms zu, dafür sollen die harten Wirtschaftssanktionen bis Ende 2015 aufgehoben werden. Ein Schritt, der neue Impulse für die lange am Boden liegende Wirtschaft geben und das angespannte Geschäftsklima entspannen soll.
Derzeit liegt die Arbeitslosenquote offiziellen Angaben zufolge bei 10,8 Prozent, die Inflationsrate beträgt 14,8 Prozent, schreibt das Auswärtige Amt. Allerdings: Erstmals seit drei Jahren konnte die iranische Wirtschaft 2014 wieder leicht zulegen, und zwar um drei Prozent. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Irans zählen die Öl- und Gas-, die petrochemische, die Kfz-, Landwirtschafts- und Metallindustrie.
Ob die Aufhebung von Sanktionen sich allerdings auch direkt auf die Lebenssituation der Obdachlosen und anderen bedürftigen Menschen auswirken wird, ist zweifelhaft. Für sie zählt im winterlichen Iran viel mehr die unmittelbare Hilfe: Hilfe in Form einer warmen Jacke zum Beispiel, die sie sich dank der Initiative "Walls of Kindness" in vielen Städten des Landes einfach vom Haken nehmen können.
Esther Felden
© Deutsche Welle 2015