Der Siegeszug der modernen Ökonomie
Nomaden sind ständig unterwegs. Das mag seinen Grund in ihrer Handelstätigkeit haben; in den langen Reisen die es braucht, um gewaltige Entfernungen zu überwinden.
Bis zu 40 Tage, so will es die Tradition, dürfen sie sich an einem Ort aufhalten. Dann aber wird es höchste Zeit, wieder auf Reisen zu gehen. Denn das Reisen, so sehen es die Tuareg, schützt auch die moralische Ordnung der Gemeinschaft.
Wer nämlich länger als 40 Tage an einem bestimmten Ort bleibt, der beginnt sich schon mal Gedanken um festen Grund und Boden zu machen, um Besitz und Eigentum und darum, wie man möglichst viel davon anhäuft. Das aber führt zu Gewinnstreben und Egoismus, die der Gemeinschaft nicht gut bekommen, sie am Ende vielleicht sogar zersetzen. Das jedenfalls behaupten die Hüter der Tradition.
Sprache der Mythen, Stoff der Moderne
Das Problem ist nur, dass diese Hüter längst selbst beachtlichen Besitz angehäuft haben. Wie alle anderen auch, haben sie sich von der Wanderschaft längst verabschiedet. Sie sind in den Oasen sesshaft geworden, haben sich einer Lebensweise verschrieben, die zwar gegen die Traditionen verstoßen mag, dafür aber größere Sicherheit und Bequemlichkeit bietet.
Ibrahim al-Koni, 1948 in eine libysche Tuareg-Familie geboren, schreibt in einem ebenso bedächtigen wie hintersinnigen Stil. Doch hinter seiner wie aus der Zeit gefallenen Sprache beschäftigt er sich mit Themen von höchster Aktualität.
Sein Roman "Die Puppe" setzt sich mit dem Aufkommen des Kapitalismus in einer Gesellschaft auseinander, die sich bestenfalls mit viel gutem Willen noch als "traditionell" bezeichnen lässt.
Doch al-Koni ist zu sehr Künstler, um dem Untergang der alten Ordnung nachzutrauern. Vielmehr präsentiert er sich als aufmerksamer Chronist, der das Aufkommen der Moderne aus ganz unterschiedlichen Perspektiven nachzeichnet.
Überkommene Weltanschauung
Hatte er in seinem Roman "Die verheißene Stadt" die Entstehung urbanen Lebens beschrieben, so widmet er sich in der "Puppe" den mit ihr verbundenen Widersprüchen und Ambivalenzen, allen voran den ökonomischen.
Das Streben nach Gold widerspreche der Tradition, verkündet der frisch gewählte Führer der Tuareg. Aber kann man das wirklich sagen? "Du willst nicht einsehen, dass wir schon lange keine Wanderer mehr sind", hält ihm einer der längst sesshaft gewordenen Nomaden entgegen. "Du willst nicht eingestehen, dass wir uns vor vierzig Jahren hier angesiedelt haben."
Der junge Führer der Tuaregs, so sehen es seine Gegner, hängt einer überkommenen Weltanschauung nach. Er erweist sich nicht als Konservativer, sondern als Reaktionär, der für die ihm anvertrauten Ämter denkbar ungeeignet ist. Zugleich aber ist er aufgrund seines Eigensinnes alles andere als jene gefügige "Puppe", die sich die mächtigen Händler als Amtsinhaber vorgestellt hatten.
Dass der junge Mann nicht zur Puppe werden will, wird am Ende sein Schicksal besiegeln. Die Frage ist nur: Liegt dies an der Gier der Händler oder nicht vielmehr daran, dass der junge Führer nicht bereit ist, den Wandel der Zeiten zu verstehen?
Ästhetik der Ökonomie
In der zentralen Passage des Romans, dem Dialog zwischen dem jungen Führer und einem älteren Kaufmann, entwickelt letzterer eine Ästhetik der Ökonomie, wie sie moderner kaum sein könnte. Kapitalismus ist für ihn eine Lebensform, die längst auch in der Welt der Tuareg gilt.
Allerdings geht es al-Koni nicht um eine exakte historische Datierung dieses Wandels. Stattdessen hebt er ihn ins Zeitlose, weitet ihn aus zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des aufziehenden Kapitalismus.
Seinen Beruf übe er vor allem darum aus, weil er durch ihn erst zum Menschen werde, erläutert der Kaufmann. Der Handel, erklärt er, "hat mich gelehrt, dass das eigentliche Geheimnis weder darin besteht, Waren durch die Wüste nachzurennen, noch darin, die seltensten Waren aus fernen Ländern herbeizuschaffen, noch darin, Gewinne zu erzählen, die man unwürdigen Nachkommen hinterlässt. Nein, der wahre Handel ist wie das Leben. Der echte Handel, Herr, ist das Leben!"
Erst in der Anstrengung komme der Mensch zu sich selbst, argumentieren die Vertreter der modernen, dem Gold geweihten Lebensform. Nein, in seiner Ruhelosigkeit verliere er sich gerade, halten ihm die Traditionalisten entgegen. Das sei nichts als "Geschwätz", antworten die Händler, der größte Gewinn des Handels liege in der Faszination, die er ausübe. Die Vertreter der anderen Seite wiederum vermuten hinter diesem Argument den Schrecken vor der Leere, die sich einstelle, wenn der Mensch keinen Handel treibe.
Wie aber kommt man zur inneren Ruhe? Al-Koni verrät es nicht. Die Rolle des Propheten oder bedächtigen Mahners liegt ihm nicht. Stattdessen stellt er die verschiedenen Standpunkte dar, präsentiert sich als einen Vertreter der Moderne, der weiß, dass der Siegeszug der modernen Ökonomie unaufhaltsam ist, auch in den traditionellen Gesellschaften Libyens.
Abgesang auf alte Zeiten
Indem er diese Zeitenwende verkennt, bringt der junge Führer die Region an den Rand einer Wirtschaftskrise. Die Preise fallen, mühsam aufgebautes Vertrauen zerbricht.
"Der Handel", versucht ein Kaufmann dem jungen Führer die Situation zu erklären, "ist wie ein streunendes Kamel. Einmal erschreckt, ist es nicht leicht zurückzubringen." Westliche Ökonomen würden dem zustimmen, nur dass sie von der "Volatilität der Märkte" sprächen.
Zwar endet "Die Puppe" mit einem Gewaltakt. Aber al-Koni weigert sich, der untergehenden Lebenswelt in melancholischer Manier hinterher zu trauern. Ein Abgesang auf gute alte Tuareg-Zeiten wäre nicht nur kitschig, er wäre auch und vor allem prätentiös und verlogen melancholisch.
So legt al-Koni nichts anderes vor als das ewige Drama der Moderne – ein ganz und gar unromantisches Drama, das sich, aller westlichen Sahara-Romantik zum Trotz, unter dem Wüstenhimmel ereignet. Nichts hält die neuen Zeiten auf. Am wenigsten schafft das eine Puppe.
Kersten Knipp
© Qantara.de
Ibrahim al-Koni, "Die Puppe". Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, Lenos Verlag, 2008
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