Nüchterner Blick auf die Freiheit

Mit seinem "Porträt des Kolonisierten" legte der Soziologe Albert Memmi Mitte der 1950er Jahre ein zentrales Werk des Dekolonialismus vor. Diesem ließ er kürzlich ein "Porträt des Dekolonisierten" folgen.

By Kerstin Knipp

​​Der Autor hegte verhaltene Hoffnung. Gut möglich, schrieb er, dass die bislang unter europäischer Kolonialherrschaft stehenden Nationen ihre bevorstehende oder bereits erkämpfte Unabhängigkeit zu nutzen wüssten.

Sicher sei das aber nicht: Jahrzehnte der Fremdherrschaft hätten die Bürger der jungen Nationalstaaten verunsichert, rat- und orientierungslose Menschen aus ihnen gemacht. Bevor man auf eine gedeihliche Zukunft hoffen dürfe, gelte es die eigene Befangenheit zu überwinden.

"Portrait du Colonisé" ("Porträt des Kolonisierten") heißt der erstmals 1957 erschienene Essay des tunesischen Schriftstellers und Soziologen Albert Memmi. Der Titel deutete an, dass der Autor nicht zögerte, das Porträt ausgesprochen allgemein zu halten. "Der Kolonisierte": Das war für Memmi ein Art Mensch ohne Eigenschaften, den "der Kolonist" nicht als Individuum betrachtete, sondern als Bestandteil eines Kollektivs, einer in seinen Dienst zu stellenden Masse.

So übermächtig sei diese Ideologie gewesen, dass der Kolonisierte ihr nichts habe entgegenstellen können: "Er fühlt sich weder verantwortlich, noch schuldig, noch skeptisch – er ist raus aus dem Spiel. In keiner Weise ist er das Subjekt der Geschichte."

Stigma Judentum

Der kleine Essay wurde zu einem der zentralen Referenztexte der Unabhängigkeitsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und wenn sein Autor den Nerv der Zeit so sehr traf, so darum, weil er nicht nur im Spannungsfeld zweier, sondern gleich dreier Kulturen stand.

Geboren 1920 in Tunis als Sohn einer jüdischen Handwerkerfamilie, mochte sich Memmi zur Religion seiner Vorfahren nicht bekennen. Ihn zog es, berichtet er, zur weltanschaulich nicht gebundenen, nicht bindenden Kultur des Westens – ohne dass er sich als Schüler eines französischen Gymnasiums in Tunis ihr darum schon wie selbstverständlich hätte zurechnen dürfen. Zugleich musste er erfahren, dass seine jüdische Herkunft ihn auch in der tunesischen Mehrheitsgesellschaft stigmatisierte – dass auch seine Muttersprache das Arabische war, nützte ihm wenig.

1956, dem Jahr, in dem Tunesien und Marokko unabhängig wurden, zog er nach Paris. Dort übernahm er bald einen Lehrstuhl für Soziologie, veröffentlichte zahlreiche Essays und Romane, die alle um Fragen einer brüchig gewordenen Identität kreisten.

Ernüchternde Bilanz

​​Im neuen Jahrtausend dann zog Memmi Bilanz: Was hatten die befreiten Staaten aus ihrer Unabhängigkeit gemacht? Die Antwort, die er in seinem 2004 erschienenen Essay "Portrait du Décolonisé" ("Porträt des Dekolonisierten") gab, fiel ernüchternd aus: nicht allzu viel.

Die in der arabischen Welt neue entfachte Begeisterung für den Islam deutet er als Reaktion auf den politischen Sittenverfall der Region, die allgegenwärtige Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Machtversessenheit der Regierenden. Die, schrieb er, seien oftmals noch tyrannischer und gieriger als die Kolonialherrscher früherer Zeiten. Überwiegend damit beschäftigt, die eigene Macht zu erhalten, interessierten sie sich für die Probleme der ihnen überantworteten Staaten – mangelnde Bildung, Armut, Arbeitslosigkeit – wenig.

Der Dauerkonflikt mit Israel sei für sie darum ein regelrechter Glücksfall: Denn der ziehe den gesammelten Unmut der Region zuverlässig auf sich. Den Palästinensern freilich nütze dies wenig: "Sie sind die Fußtruppen der arabischen Welt, die ihnen schmeichelt, um sie besser opfern zu können." Die ändere freilich nichts daran, dass die Israelis, wollten sie auf Dauer in Frieden leben, die mehrheitlich von den Palästinensern bewohnten Gebiete räumen müssten.

Gefährdete Identität

Den zweiten Teil des Essays widmete Memmi den Franzosen maghrebinischen Ursprungs. Denn deren Begeisterung für die neue Heimat werde von der Aufnahmegesellschaft nicht honoriert. Im Gegenteil, die Franzosen fühlten sich durch die Anwesenheit der Maghrebiner peinlich an ihre kolonialen Abenteuer erinnert. Zuflucht fänden die Einwanderer allein in den Migrantenvierteln. Willens und bereit, die Traditionen der alten Heimat aufzugeben, begegneten sie ihnen dort in konzentrierter Form aufs Neue.

​​In den engen Grenzen des "Ghettos" würde den Eingewanderten bewusst, wie wenig sie in die Mehrheitsgesellschaft integriert seien. Das wieder veranlasse sie, sich der alten Identität zu besinnen – die ihre Orientierungskraft aber längst verloren habe: "Wenn man so sehr auf seiner Identität beharrt, dann nur darum, weil sie bereits gefährdet ist."

Wie schon vor 50 Jahren wagt Memmi auch im neuen Buch einen vorsichtig hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Die Lösung für das Zusammenleben von alten und neuen Franzosen, alten und neuen Europäern sieht er in der "métissage", der Mischung der Kulturen, ihrer fortschreitenden Öffnung füreinander. Warum, beschließt er sein Buch, sollte man sich nicht einen Muslim als Bürgermeister von Paris vorstellen? Oder einen Juden an der Spitze einer arabischen Stadt? Bis dahin dürfte es noch dauern, doch Hoffnung darf und muss man haben, und sei sie bloß verhalten.

Kersten Knipp

© Qantara.de 2008

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