Innenpolitische Verwerfungen
Die armenische Regierungskoalition suspendiert Gespräche mit Ankara über eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Vor allem die Diasporaarmenier haben Eriwan mit dem Entzug jeglicher Unterstützung gedroht, sollten die Forderungen gegenüber Türkei aufgeweicht werden. Lennart Lehmann berichtet aus Eriwan.
Vor kurzem begeisterten sich Teile der internationalen Presse aufgrund der Nachricht, dass der oberste Geistliche der armenisch-apostolischen Kirche in Armenien, Katholikos Garegin II, zu einem Kongress internationaler Religionsführer in Baku eingetroffen war, wo er sich auch mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew traf. Dabei soll auch über den Konflikt um Berg-Karabach geredet worden sein. Der Besuch wurde von einigen Kommentatoren als "historisch" eingestuft.
In diesem Rahmen war Garegin mit dem Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, und dem Mufti Aserbaidschans, Allahsükür Pasazade, zu einem Dreiergipfel zusammen gekommen, um für die Lösung der Karabach-Frage zu plädieren. Erst zwei Tage zuvor hatte die Regierung in Eriwan Gespräche mit der Türkei ausgesetzt – ein Grund dafür war der Karabach-Konflikt.
Zwei Konflikte wider die Versöhnung
Als Gründe nennen Beobachter, dass Ankara zum einen die Gespräche über die Ratifizierung der Protokolle an eine Lösung des Karabach-Konflikts koppelt – und damit Zugeständnisforderungen an Eriwan richtet.
Die Türkei sieht sich als enger Langzeitverbündeter Aserbaidschans, das mit Armenien seit über 20 Jahren einen bitteren Konflikt über die autonome Region Berg-Karabach austrägt – Aserbaidschaner und Türken sind ethnisch miteinander verwandt.
Zum anderen wartet Eriwan noch immer auf ein Schuldbekenntnis Ankaras hinsichtlich des Genozids an den Armeniern 1915. Doch auch wenn seit einiger Zeit Bewegung in die Angelegenheit gekommen ist, leugnet Ankara den Völkermord bis heute – in diesem Punkt sind die Verhandlungen festgefahren.
Der innenpolitische Faktor
Es gibt aber auch innenpolitische Gründe, die Präsident Sersch Sargsjan veranlasst haben mögen, die Gespräche mit der Türkei auszusetzen. Seit den Bürgermeisterwahlen im Mai 2009 stellt der oppositionelle Armenische Nationalkongress (ANC), ein Bündnis aus 18 Parteien, dem auch der frühere Präsident Lewon Ter-Petrosjan angehört, die politische Legitimität Sargsjans immer stärker in Frage.
Dabei nutzt sie die innenpolitischen Ereignisse des Jahres 2008, als auch die außenpolitische Annäherung der Regierung an die Türkei, um die Bevölkerung zu emotionalisieren und Stimmung gegen den Präsidenten zu machen.
Im März 2008 starben zehn Demonstranten in Eriwan durch Polizeigewalt während öffentlicher Proteste gegen Sargsjans Wahlsieg. Zahlreiche Menschen sitzen bis heute wegen der Teilnahme an den Protesten in Haft. Menschenrechtsgruppen fordern die Freilassung dieser "politischen Gefangenen." Die Machthaber in Eriwan reagieren bislang empfindlich auf oppositionellen Widerstand und setzen Teile der Bevölkerung systematisch unter Druck.
"Amnesty International" berichtete bereits im vergangenen Jahr über Schikanen gegen Journalisten, die über Aktivitäten der Opposition informierten. "Die Leitung der staatlichen Universität drohte mir mit Entlassung, sollte ich an Veranstaltungen der Opposition teilnehmen", erwähnte etwa ein Universitätsdozent gegenüber Qantara.de.
Außenpolitischer Einfluss
Zugleich fordern die drei großen geopolitischen Akteure im Kaukasus - die EU, die USA und Russland -, von der politischen Führung Eriwan, auf Aserbaidschan und die Türkei zuzugehen und den Dauerkonflikt um Berg-Karabach zu lösen.
Dabei setzten die drei auf Sersch Sargsjan, so der Politikbeobachter und Journalist der Nachrichtenagentur "Noyan Tapan", David Petrosyan: "Sie stützen damit ein Regime mit dubioser Legitimität. Gleichzeitig erhöhen sie Sargsjans internationale Abhängigkeit. Das schränkt seinen Verhandlungsspielraum mit Ankara und Baku ein."
"Der ANC", so David Petrosyan, "genießt keine Unterstützung aus dem Westen, weil er nicht anti-russisch eingestellt ist."
Obwohl das Land von einer Öffnung der Grenze zur Türkei ökonomisch nur gewinnen könnte, gibt es auch Gruppen in Armenien, die von der derzeitigen Isolation des Landes profitieren.
"Die Staatsangestellten, das militärische Establishment und politisch gleichgesinnten Geschäftsleute erfahren keine Schwierigkeiten aufgrund der geschlossenen Grenze", schreibt der Armenier Armen Grigoryan vom "Central Asian Caucasus Institute" in Washington. "Im Gegenteil: Wirtschaftliche Präferenzen im Austausch für politische Loyalität eröffnen Möglichkeiten, schnelles Geld zu machen. Das Militär wiederum profitiert zunächst mehr, wenn der Konflikt um Karabach ungelöst bleibt."
Politischer Druck aus der Diaspora
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die armenische Diaspora. Vor allem die Armenier in Westeuropa und USA sind zu großen Teilen Nachkommen Überlebender des Völkermordes von 1915. Sie beharren auf ein Bekenntnis der Türkei und eine Entschuldigung für die damals begangenen Massaker.
Der armenische Staatshaushalt ist hochgradig abhängig von Lobbyarbeit und finanziellen Hilfen durch die Auslandsarmenier. Diasporaverbände haben Eriwan schon wiederholt mit dem Entzug jeglicher Unterstützung gedroht, sollten die Forderungen eines eindeutigen Schuldbekenntnisses von der Türkei aufgeweicht werden.
"Je weiter Sargsjan auf die Forderungen Washingtons, Moskaus und Brüssels eingeht, desto mehr begibt er sich innenpolitisch in die Isolation und stärkt die Opposition", analysiert David Petrosyan.
Kurz vor den nationalen Trauerfeiern zum 95. Jahrestag des Genozids an den Armeniern schien für den Präsidenten in Eriwan aber die Schmerzgrenze erreicht zu sein – anstatt den Dialog mit der Türkei voran zu treiben, kümmert er sich wieder verstärkt um die Machtsicherung im eigenen Land.
Lennart Lehmann
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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