Verdrängtes Unrecht
Indonesien hat einen der blutigsten antikommunistischen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert erlebt. Nach einem Militärputsch wurde 1965 eine Hatz auf Kommunisten entfesselt, der in wenigen Monaten schätzungsweise eine Millionen Menschen zum Opfer fielen. Joshua Oppenheimers Films "The Act of Killing" aus dem Jahr 2012 hat die Schlächterei in schaurige Bilder gefasst.
Oppenheimer bat die bis heute unbehelligt gebliebenen Mörder von einst, ihre Taten selbst nachzuspielen. Mit welcher Verzückung die Verbrecher im Film Puppen einen Draht um den Hals legen oder die Augen ausstechen, ist ebenso schwer zu ertragen wie der darin zum Ausdruck kommende frappierende Mangel an Leugnung und Scham.
Wie in Deutschland nach 1945
Doch die offizielle Propaganda, die aus den tatsächlichen Opfern sadistische Unmenschen gemacht und so ihre Auslöschung zu legitimieren versucht hat, scheint in Indonesien bis heute nachzuwirken – auch 17 Jahre nach dem Ende des Suharto-Regimes. Die Auseinandersetzung mit der grausamen Geschichte kommt jedenfalls nur schleppend voran.
Das ist der niederdrückende Befund des Übersetzers Peter Sternagel, der lange in Indonesien gelebt hat: "Eine direkte Offenheit besteht nicht. Es gibt immer wieder Kreise, die das eigentlich nicht wollen. Das ist dasselbe, was wir in Deutschland erlebt haben nach 1945. Es war alles nicht so schlimm."
Die Aufführung von Oppenheimers Nachfolgestreifen "The Look of Silence", in dem sich die Opfer eindrücklich zu Wort melden, wurde verboten. Währenddessen erfreut sich das 1990 in der Hauptstadt Jakarta errichtete "Museum des Verrats der Kommunisten" unvermindert großen Zulaufs. In martialischen Bildern und Szenen werden dort in einer bizarren Ausstellung Kommunisten als wilde, staatsfeindliche Bestien porträtiert.
Es ist seit jeher die indonesische Literatur, die dem offiziellen Geschichtsbild eine andere, differenzierte Sicht entgegenstellt. Der bedeutendste moderne Autor des Landes, der vor seinem Tod 2006 mehrmals als Nobelpreiskandidat gehandelte Pramoedya Ananta Toer, hat das in seinem autobiografischen Werk "Stilles Lied eines Stummen" getan – unter schwierigsten Bedingungen. Doch erst seit dem erzwungenen Rücktritt Suhartos 1998 können die traumatischen Ereignisse offener und mit Nachdruck thematisiert werden.
Frauen als Aufklärerinnen
Die erste Autorin, die das tat, war Ayu Utami. Ihr Roman "Saman", der gleich mehrere Tabus brach und sie ihn Indonesien bekannt machte, erschien bereits 1998. "Saman" und auch die Fortsetzung "Larung" sind jetzt auf Deutsch zu haben.
Für Ayu Utami hat die Beschäftigung mit der Geschichte nichts an Dringlichkeit eingebüßt. "Ein Schriftsteller sollte nicht nachlassen, seine Leser daran zu erinnern, welche schrecklichen Dinge in der Vergangenheit geschehen sind", sagt sie. "Wir müssen uns dem Zurückliegenden stellen, damit es sich nicht wiederholt."
Der unerschrockenen Ayu Utami sind andere Autoren gefolgt, vornehmlich Frauen. Auf Deutsch sind jetzt auch die aufschlussreichen Debütromane von Leila Chudori und Laksmi Pamuntjak, "Pulang" (Heimkehr nach Jakarta) und "Alle Farben Rot", erschienen, die sich beide mit dem lastenden Erbe des Massenmordes auseinandersetzen.
Vehement kritisiert vor allem Leila Chudori, die auch als Journalistin gern deutliche Worte findet, die Erinnerungspolitik der gegenwärtigen Regierung: "Wir haben noch einen langen Weg zu gehen. Die Regierung hat nicht wirklich akzeptiert, was passiert ist. Sie leugnen oder verschweigen das Geschehene. Menschenrechte sind diesen Leuten auf gewisse Weise gleichgültig. Sie können sich bis heute darauf verlassen, dass große Teile der Bevölkerung 32 Jahre lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden."
Engagierte Literatur
Gegen diese Indoktrination schreiben die indonesischen Schriftstellerinnen mit kaum nachlassender Energie an. Die Romane über die fast 50 Jahre zurückliegenden Massaker geben auf je eigene Weise detailgenaue Einblicke in die seelische Verfasstheit eines Landes im Aufbruch, das jedoch ein schweres, unbewältigtes Trauma mit sich schleppt. Es sind gelungene literarische Versuche, über das lang Verschwiegene zu erzählen und zugleich die offizielle Version der zurückliegenden Ereignisse zu hinterfragen.
Für Laksmi Pamuntjak war dabei das Schreiben selbst ein Lernprozess: "Während der Arbeit an dem Roman habe ich etwas begriffen: Ein Autor, der sich entscheidet, über diese Vergangenheit so zu erzählen, wie ich es getan habe, hat die Verantwortung, ja die Pflicht zu versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, wie Menschen denken, ihre Vorstellungen zu beeinflussen – in welch geringem Maß auch immer."
Die Romandebütantin lebt nicht in der Annahme, dass ein Buch die Welt verändern kann. Trotzdem ist sie überzeugt: "Es lassen sich einzelne Menschen erreichen – und das ist viel. Wenn man den Glauben daran verliert, dass Bücher dazu in der Lage sind, warum sollte man dann überhaupt Schriftsteller werden?"
Holger Heimann
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