Türken nach Gaza!

Aus ihrer geopolitischen und geokulturellen Situation erwächst der Türkei neue politische Verantwortung im Nahen Osten, schreibt Dan Diner, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, in seinem Essay.

Führt man sich die geopolitische Situation der Türkei vor Augen, so wird die Entfremdung zwischen dem einstigen kemalistischen Staat und Israel begreiflich. Doch aus ihrer geopolitischen und geokulturellen Situation erwächst der Türkei neue politische Verantwortung im Nahen Osten, schreibt Dan Diner, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, in seinem Essay.

Dan Diner; Foto: Lydia Farago/Universität Zürich
Geht die Türkei als muslimischer Staat auf Konfrontation mit Israel? Die Türkei hat die Rolle eines Stabilitätsgaranten mit moderierender Einflussnahme im Nahost-Konflikt, meint Dan Diner.

​​Um die israelisch-türkischen Beziehungen steht es schlecht. Hierzu bedurfte es wohl kaum noch jenes Zwischenfalls vor der blockierten Küste von Gaza, als israelische Marineeinheiten in einer politisch fahrlässigen und obendrein dilettantisch ausgeführten Aktion eine hoch politisierte Hilfsflottille aufbrachten und als bei den dabei sich ergebenden Gewalttätigkeiten türkische Bürger zu Tode kamen.

Damit ist der ohnehin seit geraumer Zeit in Gang befindliche Verfall der ehedem guten Beziehungen zwischen der muslimischen Türkei und dem jüdischen Israel nur beschleunigt worden.

Neue "osmanische" Rolle

Dieser Verfall hat in erster Linie mit einer Verwandlung der Türkei und ihrer politischen Koordinaten zu tun, auch wenn nicht in Abrede zu stellen ist, dass vor allem der Gaza-Krieg 2008/09 sowie die brüske israelische Zurückweisung türkischer Vermittlungsbemühungen nicht unerheblich zu der eruptiv an die Oberfläche getretenen Entfremdung beigetragen haben.

Die Verwandlung der Türkei wiederum steht im Zeichen eines geradezu historisch zu nennenden geopolitischen Umbruchs – der mit einer parallel erfolgenden inneren Transformation verbunden ist. Mit dem Ende des Kalten Krieges fand sich das Nato-Mitglied Türkei aufgrund seiner außergewöhnlichen geopolitischen und geokulturellen Lage – zwischen Balkan, Schwarzem Meer, Kaukasus, Levante und Nahem sowie Mittlerem Osten – aufs Neue in eine Rolle versetzt, die man als "osmanisch" bezeichnen könnte.

Türkischer Ministerpräsident Erdogan und Nato-Generalsekretär Rasmussen; Foto: AP
"Mit dem Ende des Kalten Krieges fand sich das Nato-Mitglied Türkei aufgrund seiner außergewöhnlichen geopolitischen und geokulturellen Lage – zwischen Balkan, Schwarzem Meer, Kaukasus, Levante und Nahem sowie Mittlerem Osten – aufs Neue in eine Rolle versetzt, die man als 'osmanisch' bezeichnen könnte", schreibt der Historiker Dan Diner.

​​Nach dem Zerfall der Sowjetunion von äußerem Druck frei, sah sich die Türkei nunmehr in die Lage versetzt eine Außenpolitik der "strategischen Tiefe" nach allen Himmelsrichtungen zu betreiben: Die deklarierte Orientierung nach Europa beschleunigt die Modernisierung des Landes. Die zunehmende Wiederkehr eines islamischen Selbstverständnisses im Inneren erlaubt eine Öffnung in Richtung muslimischer Welt, die erleichtert wird durch ein zunehmendes muslimisches Selbstverständnis der sonst türkischerseits wenig wohlgelittenen Araber.

Der alte Konflikt mit Syrien um den Sandschak Alexandrette, ererbt aus der Zeit des französischen Völkerbundmandats, ist nicht mehr virulent. Eine neue, auf Kooperation der Anlieger gerichtete Schwarzmeer-Politik erlaubt eine strategische Annäherung an die Ukraine ebenso wie an Russland; die armenisch-türkische "Fussball-Diplomatie" hatte bereits zuvor die verriegelte Grenze Richtung Südkaukasus aufgeweicht.

Ferne Schutzmacht

Des Weiteren richtet sich der türkische Blick nach Innerasien, wo sprachliche, ethnische und religiöse Affinitäten zu den Turkvölkern der Türkei so etwas wie die Rolle einer fernen Schutzmacht nahezulegen scheinen. In Konkordanz dazu fördert die Türkei auf dem Balkan einen moderaten Islam, um dem wahhabitischen Einfluss in Bosnien entgegenzuwirken.

Türkeikarte;Foto: www.kooperation-international.de
"Die traditionell förderlichen Beziehungen der Türkei zu Israel waren kein Anliegen breiter Bevölkerungsschichten, sondern eher der Eliten gewesen, vornehmlich des in kemalistischer Tradition stehenden allmächtigen Militärs", meint Dan Diner.

​​Die Annäherung an Iran in Sachen Nuklearkonflikt trägt das ihre dazu bei, sich vom "Westen", trotz weiterhin bestehender Einbindung, abzugrenzen – eine Tendenz, die sich bereits angekündigt hatte, als die türkische Regierung sich weigerte, im Vorfeld des Irak-Krieges amerikanischen Bodentruppen einen Korridor Richtung Nordirak zu öffnen.

Die skizzierte Veränderung der türkischen Koordinaten erlaubt recht eigentlich kaum eine Fortsetzung des traditionell gedeihlichen Verhältnisses zu Israel. Es verdankte sich, wie angedeutet, letztlich der besonderen Konstellation des Kalten Krieges, dem arabisch-türkischen Gegensatz sowie der kemalistischen Staatsideologie, die die Türkei als territorial klar abgezirkelten, sich von seiner muslimischen Umgebung abwendenden, ethnisch definierten und obendrein laizistischen Nationalstaat entwarf.

Das vormalige Selbstverständnis erlaubte es der Türkei, im Nahostkonflikt wie in der ihm zugrundeliegenden Palästinafrage eine relativ agnostische Haltung einzunehmen. Zudem waren die förderlichen Beziehungen der Türkei zu Israel kein Anliegen breiter Bevölkerungsschichten, sondern eher der Eliten gewesen, vornehmlich des in kemalistischer Tradition stehenden allmächtigen Militärs.

In der Verknüpfung von "osmanischer" außenpolitischer Orientierung mit der inneren Verwandlung türkischen Selbstverständnisses in Richtung Zugehörigkeit zur islamischen Welt scheint die Substanz der israelisch-türkischen Zusammenarbeit jedenfalls aufgebraucht.

"Osmanische" Außenpolitik

Will dies heißen, die Türkei verstehe sich zunehmend als muslimischer Konfrontationsstaat Israel gegenüber? Manche Töne weisen in eine ebensolche Richtung – und von vielen wurde der Zwischenfall vor der Küste Gazas durchaus entsprechend bewertet. Dem freilich muss so nicht sein. Die in alle Himmelsrichtungen gleichermaßen betriebene "osmanische" Außenpolitik wird dem Land – will es sich als Regionalmacht denn tatsächlich positionieren – auch Verantwortung aufbürden, etwa die mit der Rolle eines Stabilitätsgaranten einhergehende Verantwortung zu moderater und moderierender Einflussnahme. Dies gilt gerade für den leidigen Nahostkonflikt.

Türkischer Präsident Abdullah Gül, Palästinenserpräsident Abbas und israelischer Präsident Schimon Peres; Foto: dpa
Wenn sich die Türkei tatsächlich als Regionalmacht positionieren will, wird sie auch für den Nahostkonflikt Verantwortung übernehmen müssen, meint Dan Diner.

​​Mit einer bloßen Parteinahme wäre es also nicht getan. Dagegen sprechen auch neue Konfliktpotenziale, die die neu eröffneten Horizonte mit sich bringen: Die wenn auch verhaltene Annäherung an den schiitischen Iran könnte in Zukunft womöglich in eine regionale Rivalität umschlagen – nach Art des osmanisch-safawidischen Gegensatzes vergangener Jahrhunderte. Sie könnte auch das Verhältnis der Türkei zu Ägypten belasten, einer anderen traditionellen Regionalmacht, die angesichts der Dämmerung des Regimes Hosni Mubaraks noch so manche Unwägbarkeiten bereithält.

Der Reigen ließe sich schier endlos fortspinnen; und dies ganz abgesehen davon, dass die Türkei, wenn nicht alles täuscht, weiterhin Mitglied der Nato ist und zudem, jedenfalls erklärtermaßen, den Beitritt in die Europäische Union anstrebt.

Die Glut erkalten lassen

Die israelisch-türkische Krise eröffnet vor dem Hintergrund der strategischen Ausrichtung der Türkei aber eben auch erhebliche Chancen – Chancen, eine derart weit vernetzte Türkei in regionale Verantwortung zu nehmen.

Noch sind die israelisch-türkischen Gemeinsamkeiten zudem nicht gänzlich aufgebraucht, vor allem im Bereich der Rüstungskooperation. Dies gilt überdies für die Bindekraft einer noch älteren gemeinsamen – jüdisch-osmanischen – Geschichte, die mit der Aufnahme der 1492 von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden begann und sich fortsetzte, als später Juden und Muslime zusammenrückten unter dem Eindruck der nicht unwesentlich von christlichen Bevölkerungsgruppen betriebenen Desintegration des multireligiösen Osmanischen Reiches.

Träfe die Erwägung tatsächlich zu, die der Türkei zugewachsene Rolle wirke sich nicht nur in eine Richtung aus, dann wäre Ankara aufgefordert, nach Zustimmung aller betroffenen Parteien wie der internationalen Gemeinschaft in Gaza Verantwortung zu übernehmen.

Die sunnitische Türkei wiese gegenüber der Hamas eine größere religionspolitische Nähe auf als der schiitische Iran; sie wäre als muslimische, indes nichtarabische Macht aus der näheren Region eher gegen interessenpolitische Verdächtigungen gefeit als die umliegenden arabischen Staaten. Als Nato-Staat wäre sie weiterhin in den Westen eingebunden und als Kandidat der Europäischen Union den Argusaugen aus Brüssel ausgesetzt. Sie wäre jedenfalls nicht von vornherein dazu verdammt, einem Fluch Jassir Arafats gemäß Wasser aus dem Meer von Gaza zu trinken, also erbärmlich zu scheitern.

Ein solches Manöver – Gaza unter der Obhut und damit der Kontrolle der Türkei – könnte einer Perspektive Tür und Tor öffnen, zu der die unmittelbar am Konflikt beteiligten Parteien – Israelis und Palästinenser – ohnehin verurteilt sind: die Glut des Konflikts durch neutralisierende Einflussnahme von außen erkalten zu lassen.

Die Türken in Gaza mögen die Ersten sein. Vielleicht folgen ihnen von Israelis und Palästinensern willkommen geheißene Marokkaner aus dem "fernen Westen" auf dem Fuß. Der Sharif als Abkömmling des Propheten wäre ein nicht ungeeigneter Hüter der Heiligen Stätten des Islams in Jerusalem alias al-Kuds.

Dan Diner

© Neue Zürcher Zeitung 2010

Dan Diner ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität Leipzig.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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