Auf Distanz zur westlichen Staatengemeinschaft?
Das Engagement der Türkei im Nahen Osten hat eine alte Diskussion wiederbelebt: Vollzieht die Türkei eine außenpolitische Wende? Außenpolitik ist kein Nullsummenspiel, heißt es dazu aus Ankara. Und türkische Intellektuelle meinen: Wenn überhaupt, hat sich innenpolitisch etwas geändert. Von Ayşe Karabat
Durch den israelischen Angriff auf die "Freiheits-Flotille" am 31. Mai, bei dem neun türkische Staatsangehörige ums Leben kamen, haben sich die Beziehungen zwischen Tel Aviv und Ankara erheblich verschlechtert.
Nachdem die Türkei kürzlich im UN-Sicherheitsrat neue Sanktionen gegen den Iran abgelehnt hat, hat sich nun auch US-Verteidigungsminister Robert Gates zu Wort gemeldet. Auch er glaubt, dass die Türkei sich immer mehr dem Osten zuwendet. Und er macht die EU dafür verantwortlich.
"Ich persönlich glaube, dass dieser Kurswechsel der Türkei, wenn er sich denn bestätigen sollte, zu großen Teilen auf das Drängen einiger Kräfte in Europa zurückzuführen ist, die dem Land nicht die gewünschte Anbindung an den Westen ermöglicht haben", sagte Gates einen Tag nach der Abstimmung bei den Vereinten Nationen.
Ähnlich sieht es der italienische Außenminister Franco Frattini. Die Europäer hätten einen Fehler begangen, sagte er, indem sie die Türkei in Richtung Osten gedrängt hätten, statt zu einer größeren Annäherung des Landes an die EU beizutragen.
Gezielte Abgrenzung von Europa?
Der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Burak Özügergin, bezeichnete diese Darstellung als "in gewisser Weise" akkurat: Die Türkei sei seinem Empfinden nach nicht von allen Bündnispartnern gleichermaßen fair behandelt worden. Einigen Vertretern sei es beim Thema der türkischen EU-Mitgliedschaft bloß darum gegangen, selbst besser dazustehen.
"Das sind mathematische Fakten. Aber daraus einen Zusammenhang mit dem türkischen Engagement in der Region herzuleiten, wäre völlig falsch", betonte er. "Die Türkei will sich nicht von der EU abgrenzen, sondern handelt nach Maßgabe einer durchdachten Zukunftsvision für die Region. Hätte die EU ebenfalls solche Überlegungen angestellt, würde sie versuchen, die aus den türkischen Bemühungen entstandenen Synergien zu nutzen."
Türkische Staatsvertreter haben bei dieser Debatte von Anfang an betont, was sie allmählich zu wiederholen müde sind: Der kalte Krieg ist vorbei, Außenpolitik ist kein Nullsummenspiel, und die türkische Außenpolitik gegenüber dem Osten geht nicht auf Kosten der Beziehungen zum Westen.
Pierre Lellouche, Frankreichs Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, kann das nachvollziehen. Befürchtungen, die Türkei könnte dem Westen davon schwimmen, hält er für unbegründet: Die engeren Bande des Landes mit dem Osten seien aufgrund seines Standings in der Region ganz natürlich.
"Immer wieder heißt es, für den Westen sei das Ganze ein Nullsummenspiel: Eine im Osten verankerte Türkei sei für Europa und die NATO verloren. Diese überholte Sichtweise erinnert mich an den Kalten Krieg. In meinen Augen entbehrt sie jeder Grundlage."
Weder Ost noch West
Die Türkei sei im Osten bereits seit Jahren ebenso aktiv wie im Westen. Im 21. Jahrhundert habe das Land wiederentdeckt, dass es als Brücke zwischen den beiden Welten unersetzlich ist. Die "bemerkenswert aktive Diplomatie" des Landes im Nahen Osten zeige deutlich, so Pierre Lellouche, dass das Land allmählich zur Weltmacht werde.
Trotzdem möchte Frankreich, genau wie Deutschland, der Türkei keine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union, sondern bloß eine so genannte "privilegierte Partnerschaft" anbieten. Mit der Begründung, die Kultur des Landes sei nicht wirklich europäisch.
Demgegenüber erklärte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu kürzlich vor den Teilnehmern eines türkisch-arabischen Kooperationsforums, die Türkei habe zwar noch immer großes Interesse an einem EU-Beitritt, doch das Bündnis könne und solle das Land "in den Beziehungen zu seinen Nachbarländern nicht einschränken."
Auf dem Wirtschaftsforum der Turkish Arab Cooperation (TAC) in Istanbul war unlängst ein Freihandelsabkommen diskutiert worden, das zwischen der Türkei und mehreren arabischen Ländern beschlossen werden soll, darunter Syrien, Jordanien und der Libanon. Davutoğlu lud andere interessierte Länder ausdrücklich ein, dieser Freihandelszone beizutreten, die er jedoch nicht also Alternative zur EU verstanden wissen wollte.
Auf Fragen nach einer außenpolitischen Umorientierung der Türkei antwortete er, man müsse neue Perspektiven eröffnen und die türkische Außenpolitik im Zusammenhang mit der Innenpolitik diskutieren.
Wer die Türkei in dieser Hinsicht kritisiere, fügte Davutoğlu hinzu, müsse im Übrigen der geplanten Verfassungsreform des Landes besonders optimistisch gegenüberstehen.
Chancen für die Stärkung der Demokratie
Mit dem Reformpaket, über das per öffentlichem Referendum abgestimmt wird, soll die Demokratie in der Türkei gestärkt und auf einige Forderungen der Europäischen Union eingegangen werden, etwa nach Verbesserungen bei der Gleichberechtigung und nach weiterer Umsetzung des Konzepts der Bürgerbeauftragten.
Allerdings hat das Paket auch Kritik erfahren: Es trage zur gesellschaftlichen Polarisierung bei, da einige der vorgeschlagenen Änderungen angeblich die Rechtsprechung zu sehr der staatlichen Kontrolle ausliefern würden.
Jedenfalls war das türkische Parlament in der letzten Zeit so intensiv mit diesem Reformpaket beschäftigt, dass andere gesetzgeberische Neuerungen, die für einen Verhandlungsfortschritt mit der EU wichtig gewesen wären, auf der Strecke blieben – sehr zum Leidwesen der spanischen EU-Präsidentschaft.
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, der erst kürzlich für Aufsehen sorgte, weil er die palästinensische Hamas nicht als "terroristische Vereinigung" zu charakterisieren bereit war, hat den Vorwurf eines außenpolitischen Wandels jedenfalls als "schmutzige Propaganda" zurückgewiesen: Die Türkei wisse sich sowohl dem Osten als auch dem Westen verpflichtet. Wer das Gegenteil behaupte, gebe sich als Sprachrohr Israels her.
Sie habe Angst vor einem Anschlag auf ihre Person, schrieb kürzlich Nuray Mert, Kommentatorin der Tageszeitung "Hürriyet" – wegen ihrer kritischen Anmerkungen zur Gaza-Flotille. Und zu den Äußerungen Erdoğans hielt sie fest:
"Was mich weit mehr beunruhigt, ist der Umschwung der türkischen Innenpolitik: Wenn man Regierungskritiker zum Schweigen bringen will, indem man ihnen unterstellt, sie machten sich zum Sprachrohr Israels, hat man den Boden der Demokratie verlassen. Demokratie ist jedoch ein universeller Wert und für die Zugehörigkeit zur westlichen Gemeinschaft ein sine qua non."
Ayşe Karabat
© Qantara.de 2010
Aus dem Englischen von Ilja Braun
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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