Die zweite Renaissance der Araber
Der demokratische Aufbruch, der die arabische Welt erfasst hat, steht noch ganz am Anfang, und wie alle historischen Umwälzungen wird er auch von Rückschlägen, Gegenbewegungen, Verrat und Brüchen begleitet sein. Aber wir sind Zeugen einer arabischen Renaissance, die in vieler Hinsicht irreversibel ist; Zeugen des Sieges einer Generation, die entschlossen ist, ihr Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen.
Und diese Renaissance trägt in sich auch die unerfüllten Versprechen und die emanzipatorische Energie der "Nahda" (arabisch für Aufschwung, Renaissance) – der ersten großen Befreiungsbewegung, die mit Napoleon Bonapartes Ägypten-Expedition einsetzte und durch den Zweiten Weltkrieg beendet wurde.
Deutliche Parallelen
Jenes "liberale Zeitalter des arabischen Denkens", wie es der Historiker Albert Hourani genannt hat, war die politische und intellektuelle Antwort auf den Einbruch des Okzidents in die arabische Welt, der gleichzeitig als militärische Aggression und als Infragestellung der eigenen Zivilisation empfunden wurde.
Das Osmanische Reich wurde dadurch derart erschüttert, dass in Tunesien und Ägypten – den schon damals progressivsten Ländern – zwei fortschrittsorientierte Dynastien ihre Reformprogramme weitgehend unabhängig von der Hohen Pforte entwickeln konnten. So setzte Sadiq Bey 1861 in Tunis erstmals innerhalb der arabischen Welt eine Verfassung in Kraft, welche die Trennung zwischen Staat und Religion festlegte.
Dank der Verbreitung der Drucktechnik in der arabischen Welt entstanden Dutzende von Zeitungen und Zeitschriften, die nicht nur neue Ideen und freie Information zu den Lesern brachten, sondern dafür auch eine allgemein zugängliche Sprache fanden – ein Innovationsschritt, der sich heute mit dem Aufkommen des Satellitenfernsehens vergleichen lässt.
An der Stelle der Facebook-Generation stand im 19. Jahrhundert die kosmopolitische Klasse der Hochschulabsolventen, die oft ein gespanntes Verhältnis zu den religiösen Autoritäten – muslimischen wie christlichen – unterhielten und deren Ideen in der arabischen Diaspora in Europa und Amerika ihren Nachhall fanden.
1881 zwang Frankreich Tunesien sein Protektorat auf, im folgenden Jahr brach Großbritannien Ägyptens Widerstand gegen die Okkupation und damit auch den Reformwillen der Khediven. 1919 verhafteten und deportierten die Briten die Delegation (arabisch: "Wafd"), welche die arabischen Nationalisten an die Friedenskonferenz in Paris hatten entsenden wollen, und entfesselten damit einen Volksaufstand.
Die damalige Kampagne des zivilen Ungehorsams weist – in ihrer kollektiven Disziplin wie auch in ihrer Regionen und soziale Schichten übergreifenden Mobilisierungskraft – deutliche Parallelen zu der Revolte auf, die im Februar 2011 den Sturz des Mubarak-Regimes einleitete. Und trotz blutiger Unterdrückung der Revolution von 1919 sahen sich die Briten drei Jahre später zur Anerkennung der ägyptischen Unabhängigkeit gezwungen.
Die libyschen Aufständischen wiederum konnten sich auf Omar al-Mukhtars erbitterten Widerstand gegen die italienische Kolonialherrschaft in den Jahren 1911 bis 1931 berufen. Die Gleichsetzung Ghadhafis mit dem faschistischen Prokonsul ist keineswegs nur Rhetorik: Unter dem "Bruder Führer" war das manipulative Machtspiel mit Regionen und Stämmen nicht minder kalkuliert, die Feindseligkeit gegenüber der Cyrenaika nicht minder heftig und der Preis, den das Volk für die Konsolidierung eines absolutistischen Regimes zu bezahlen hatte, nicht minder hoch.
Die libyschen Revolutionäre haben einmütig die Fahne der Unabhängigkeit von 1951 zu ihrem Emblem gemacht – nicht weil sie die Monarchie restituieren wollen, sondern weil König Idris I. als Erbe eines föderalen Staatengebildes einst Tripolitanien, die Cyrenaika und den Fezzan erfolgreich geeint hatte.
In allen Ländern trägt der demokratische Aufbruch auch den Charakter einer nationalen Befreiungsbewegung – denn Regime, die ihre Länder lediglich als Quell der Selbstbereicherung ausnützen, sind dem Volk nicht minder fremd als Kolonialherren.
Daher die Begeisterung, wenn sich die Armee auf die Seite des Volkes schlägt, daher die Meere von Fahnen, mit denen in Tunis, Kairo und Tripolis der Sturz des Despoten zelebriert wurde. Dieser wiederentdeckte Nationalstolz nährt auch die Erwartung, mit fremden Mächten wieder auf einer Basis von Gleichheit und gegenseitiger Achtung verhandeln zu können. Dies ist der eigentliche Knotenpunkt, der die erste und die zweite arabische Renaissance verbindet: die Hoffnung, die allzu lang aufgeschobene Unabhängigkeit endlich in Kraft zu setzen und zu leben.
Zweierlei Staatsräson
Die Revolten sind die Frucht eines maximalen Spannungsverhältnisses zwischen verantwortungsvoller Staatsräson und der Räson autokratischer Regime. In der arabischen Welt hat die Letztere die Erstere in den vergangenen Dekaden völlig absorbiert, bis nur mehr gut fürs Volk war, was dem Herrscher diente. Ghadhafis persönliches Wahnsystem war ruinös für Libyen, hat ihn aber gut vier Dekaden an der Macht gehalten.
Ebenso stützten die von Hafez al-Asad und seinem Sohn Baschar gepflegte Logik des divide et impera sowie die strategische Allianz des syrischen Regimes mit Iran den absoluten Machtanspruch der Baath-Partei. Aber auch in Syrien versucht die Widerstandsbewegung, die sich trotz steigendem Blutzoll nicht mehr niederschlagen lässt, die Interessen des Landes gegen den Willen der Herrscherclique durchzusetzen.
Die nationalistische Dimension der arabischen Revolten entfaltet sich im Rahmen der nachkolonialen Landesgrenzen: Trotz dem übergreifenden Charakter der Befreiungsbewegung werden diese derzeit nicht etwa in Frage gestellt, sondern vielmehr affirmiert. Daher rührt auch die extreme Sensibilität, wenn es um Interventionen von außen geht. Die libyschen Aufständischen wären zu Beginn ihrer Revolte ohne internationale Unterstützung schlicht liquidiert worden; aber es waren die Bürger von Tripolis, unterstützt von Rebellentruppen aus Misrata und der Region des Jebel Nafusa, welche im vergangenen Monat Ghadhafis Anhängern die Hauptstadt des Landes entrissen.
Diejenigen Autokraten, die mit der Gefahr eines Bürgerkriegs drohen, um ihren Thron zu retten, versäumen es selten, die Regimegegner als "Marionetten des Auslands" zu denunzieren. Baschar al-Asad ist der unübertroffene Meister dieser Art von Taschenspielerei, und die Zersetzungskraft seiner Propaganda kann in einer Bevölkerung, die an den Folgen der amerikanischen Invasion im Irak schwer mitzutragen hat, durchaus Wirkung entfalten: Syrien hat in den vergangenen Jahren mehr als eine Million Iraker aufgenommen, die vor den ethnischen und religiösen Konflikten in ihrer Heimat fliehen mussten.
Aus diesem Grund haben sich die tansiqiyyat, die Koordinationskomitees des syrischen Widerstands, kategorisch drei Verbote aufs Programm gesetzt: Nein zur Gewalt, Nein zur Konfessionalisierung und Nein zur Internationalisierung.
Durch diese dreifache Negation versucht die syrische Opposition, das vom Regime beschworene Bedrohungsszenario außer Kraft zu setzen, das mit der Gefahr aufbrechender ethnischer und religiöser Spannungen im Land und einer ausländischen Intervention argumentiert.
Aber die Repression ist mittlerweile derart brutal, dass die tansiqiyyat nun doch nach internationalen Beobachtern gerufen haben, welche die Massaker bezeugen und, wo möglich, verhindern sollen. Aber nach wie vor bleibt die Opposition fest in ihrer Absage an die Gewalt – denn nichts wäre dem Regime willkommener als ein Vorwand zum offenen Kampf.
Erst am Anfang
Die Größe des syrischen Widerstands besteht darin, dass er bis heute dieses Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit weitestgehend einhalten konnte. Und eine der größten Herausforderungen für das "neue Libyen" wird die raschest mögliche Demilitarisierung des Landes sein, die eine unabdingbare Bedingung für die Errichtung eines Rechtsstaats auf den vom Ghadhafi-Regime hinterlassenen Ruinen darstellt.
In Tunesien wie in Ägypten markieren die Parlamentswahlen für eine verfassunggebende Versammlung den Beginn eines institutionellen Wiederaufbaus, der endlich von der gesamten Nation mitgetragen werden sollte. Denn noch schreiben wir erst das erste Jahr der zweiten arabischen Renaissance.
Jean-Pierre Filiu
© Neue Zürcher Zeitung 2011
Jean-Pierre Filiu lehrt am Institut d'études politiques in Paris und als Gastdozent an der Columbia University in New York und der Georgetown University in Washington. Seine Studien über die arabisch-muslimische Welt sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Kürzlich erschien "La Révolution arabe, dix leçons sur le soulèvement démocratique".
Aus dem Französischen von Angela Schader
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de