Rebellion der Entmündigten

Der renommierte marokkanische Philosoph Mohamed Sabila beschreibt in seinem Essay die Kluft der Generationen in den drei Maghrebstaaten und die soziale Misere einer jüngeren Generation, die sich enttäuscht vom politischen Dogmatismus der Elterngeneration abwendet.

الكاتبة ، الكاتب: Mohamed Sabila

Jugendliche demonstrieren in Tunis gegen das politische System Ben Alis; Foto: AP
Folgenschwere Jasmin-Revolution: Auch nach dem Sturz Ben Alis demonstrieren vor allem jüngere Menschen in Tunesien gegen die neue Übergangsregierung, die sie als politische Seilschaft des alten Systems betrachten.

​​ Die Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko, aber auch ihre geografischen Nachbarn, haben viele politische und kulturelle Gemeinsamkeiten und Entsprechungen. Alle drei Staaten unterstanden seit dem 19. Jahrhundert den französischen Kolonialherren: Algerien wurde 1831 besetzt, 1881 folgten Tunesien und 1912 schließlich Marokko.

Seit den 1940er Jahren entstanden in diesen Ländern Widerstandsgruppen, die ihren antikolonialen Kampf koordinierten und gemeinsam planten – mit langfristigem Erfolg. Doch die Unabhängigkeit, die die drei Staaten in den 1950er und 1960er Jahren erringen konnten, führte insbesondere zwischen Marokko und Algerien auch zu politischen Gegensätzen, die sich nach und nach angesammelt hatten. So gab es Grenzkonflikte, wie etwa den Konflikt um die Westsahara, aber auch anhaltende Streitigkeiten, wie der zwischen dem marokkanischen Sultanat und dem algerischen Freiheitskämpfer Emir Abdelkader.

Politische Umbrüche in der Moderne

In allen drei jungen unabhängigen Staaten kam es zu politischen Konflikten mit den einstigen Trägern des antikolonialen Kampfes. In Algerien verdrängte die Befreiungsarmee all jene Parteien und Kräfte, die in der algerischen Übergangsregierung vertreten waren. In Tunesien verdrängte Habib Bourguiba die politischen Führungskräfte aus der Zeit des antikolonialen Kampfes. Und in Marokko entbrannte ein mörderischer Konflikt um die Macht, an dem der Palast, die progressiven Parteien und die Armee Anteil hatten.

Nach blutigen Kämpfen kam es zu einer Übereinkunft auf der Grundlage einer Demokratie, die auf Machtteilung beruhte. Auch was die Haltung der Regimes gegenüber den Bewegungen des politischen Islams angeht, so ließen sich in allen drei Ländern Parallelen, aber auch Besonderheiten feststellen: Die tunesische Regierung verdrängte die Islamisten kurzerhand aus der Politik. In Algerien, wo die Islamische Heilsfront (FIS) 1990 die Wahlen gewann, kam es zu einer Annullierung der Wahlen und anschließend zu einem langjährigen Bürgerkrieg, der damit endete, dass die Islamisten politisch verdrängt wurden.

In Marokko kam es aufgrund des religiösen Charakters der Staatsmacht – der König ist Staatsoberhaupt und religiös legitimierter Herrscher – zu keiner direkten Konfrontation mit den islamischen Bewegungen (mit Ausnahme der "Adl wa-Ihsan"-Gruppe), da sie ins politische System integriert wurden.

Wiederkehrende Revolten

Bezeichnend für die Gesellschaften der drei Maghrebstaaten sind vor allem die sozialen Proteste, die automatisch einen politischen Charakter annehmen und in einem Rhythmus von vier bis sechs Jahren stattfinden: die sogenannten Brotunruhen.

Jugendliche Demonstranten in Bab El-Oued; Foto: dpa
Wiederkehrende Revolten: Bereits 1988 entzündeten sich in dem Arbeiterviertel Bab El-Oued der algerischen Hauptstadt Algier die sogenannten Brotunruhen, die schon bald politische Dimensionen annahmen und die FLN-Machthaber herausforderten. Nach über 20 Jahren kommt es abermals zu Protesten in Bab El-Oued - gegen überhöhte Lebensmittelpreise, Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung Bouteflika.

​​ Diese Proteste beginnen meist in der Form von Volksaufständen in den Städten, werden gewalttätig niedergeschlagen und verebben, bis eine neue Generation die Gewalt der vorigen Revolte vergessen hat und eine neue Lawine lostritt.

Der Kreislauf folgt dem immer gleichen Schema: anfänglicher Protest, offene Rebellion, Unterdrückung der Unruhen durch das Regime, Abflauen der Proteste und neuerliches Aufflammen. Parallel hierzu setzen die Regimes auf verschiedene Instrumente, um die politische und gewerkschaftliche Opposition zu bändigen und auf unterschiedliche Weise politisch zu integrieren. Es hat den Anschein, dass die Protestbewegungen sich meist spontan, als Reaktion auf die steigenden Lebensmittelpreise, formieren.

Oft greifen politische oder gewerkschaftliche Organisationen diese Missstände auf und prangern sie erfolgreich innerhalb der Bevölkerung an. Die meisten Angebote, die der Staat diesen Gruppierungen macht, sind jedoch nur provisorischer Natur und werden oft mit dem Ziel verkündet, kurzfristig soziale Brände zu löschen.

Der Niedergang der alten Eliten

Charakteristisch für alle drei Maghrebstaaten ist die Kluft der Generationen und der Ideologien. Das traditionelle Personal der Politik, aber auch der Opposition, ist in ihrer Denkweise und Ideologie einer Generation verhaftet, die über Legenden, Heldentaten und viel Symbolik im Kampf gegen den Kolonialismus verbunden ist, während die Gesellschaften heute einen raschen demografischen Wandel erleben.

Algeriens Präsident Bouteflika; Foto: AP
Fehlender Rückhalt bei der jüngeren Generation: Viele junge Menschen in Algerien sind der Ansicht, dass das algerische Regime unter Präsident Bouteflika über keine ausreichende politische Legitimität verfügt.

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1956, im Jahr der Unabhängigkeit, hatte Marokko noch zehn Millionen Einwohner, heute sind es über 30 Millionen, davon etwa 60 Prozent junge Menschen. Das bedeutet, dass der nationalistische, antikoloniale Diskurs der Befreiungsfront in Algerien, der Unabhängigkeitspartei in Marokko und auch der Regierungspartei in Tunesien auf dem Rückzug ist.

Obwohl die ältere politische Elite an ihrem nationalistischen Erbe und Pathos festhält, sind deren Mythen in den Augen der jüngeren Generation schon längst verblasst. Die Jugend hat neue Ambitionen und Erwartungen, sie hofft auf ein besseres Leben. Diese politische und ideologische Neuorientierung fand teilweise Erfüllung im islamischen Diskurs, der voll von Verheißungen und Utopien für eine bessere Zukunft ist.

Strategien gegen sozialen Protest

Zweifellos hat jedes Regime sein eigenes "Rezept", um sozialen Protesten entgegenzutreten und die Opposition zu zähmen. Das marokkanische Regime hat ein eigenes politisches Abwehrsystem entwickelt, indem es seine religiöse Legitimität hervorhebt.

Mohamed Sabila; Foto: &copy Mohamed Sabila
"Legitimitätsverlust, ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sowie fehlende individuelle Freiheitsrechte sind die strukturellen Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie im Maghreb", meint Sabila.

​​Es konnte die oppositionellen Kräfte bisher erfolgreich in die Schranken weisen, indem es mal mit eiserner Faust regierte und ein andermal die politischen und kulturellen Eliten auf seine Seite zog. Außerdem wurde die nationale Einheit durch die sogenannte "Vollendung der territorialen Einheit" (Annexion der Westsahara / Anmerkung der Redaktion) gefördert.

Hinzu kamen politische Reformen, die unter dem neuen marokkanischen König eingeleitet wurden. In Algerien setzt man bei der Legitimationsfrage weiter auf das Epos des antikolonialen Befreiungskampfes, auch wenn diese ideologische Referenz viel von ihrer mobilisierenden Kraft eingebüßt hat. Für neuere Generationen stellt sie nur mehr eine Geschichte dar, die vor der Realität keinen Bestand hat. Hinzu kommt das Gefühl, dass die nationalen Ressourcen im öl- und gasreichsten Land des Maghreb verschleudert und ungleich verteilt werden.

Zudem glauben viele junge Menschen in Algerien, dass das algerische Regime nicht über eine ausreichende politische Legitimität verfügt. Dies erklärt auch, warum man dort jetzt so hastig die Preise für Grundnahrungsmittel gesenkt hat. Das zusammengebrochene tunesische System von Ben Ali hatte sich immer damit gebrüstet, gleichzeitig Sicherheit und Entwicklung gewährleistet zu haben und von der Mittelschicht protegiert zu werden.

Gleichwohl konnte es nicht verhindern, dass der soziale Schmerz der Gesellschaft so gewaltig war, dass dessen Aufschrei das ganze Regime mit sich riss. Anhaltender Legitimitätsverlust, ungerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums sowie fehlende Machtverteilung und Gewährung individueller Freiheitsrechte sind die strukturellen Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie in allen drei Maghrebländern.

Es ist daher mehr als fraglich, ob man mit ein wenig Balsam die tiefen gesellschaftlichen Wunden wirklich heilen wird.

Mohamed Sabila

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Arabischen von Günther Orth

Mohamed Sabila ist Professor für Philosophie an der Universität Rabat und Präsident der marokkanischen Gesellschaft für Philosophie.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de