Viele offene Fragen
Als die Stadtreinigung von Tunis am Abend des 30. März 2013 die letzten Flugblätter zusammenfegte, atmeten die Mitglieder des Organisationskomitees auf: Das fünftägige Weltsozialforum (WSF) mit 4.000 angemeldeten Organisationen und Gruppen, rund 30.000 Besuchern und 800 Workshops war reibungslos verlaufen – ohne ernste gewaltsame Auseinandersetzungen und ohne aufdringliche Polizeipräsenz.
Böse Zungen behaupteten zwar, die Regierung der islamistischen Ennahda-Partei habe ihre salafistischen Verbündeten vom Campus der Manar-Universität zurückgezogen, um ein gutes Bild zu vermitteln. Doch das ist Spekulation. Fakt ist, dass das Mega-Event, abgesehen von vereinzelten Raufereien, friedlich verlief und dass Salafisten kaum störten.
Weltsozialforen sind laut Charta keine in sich geschlossenen Einzelveranstaltungen mit klar umrissenem Output, sondern Teil eines globalen Kommunikations- und Vernetzungsprozesses. Beim WSF in Tunis machten davon vor allem arabische Aktivisten und Frauen Gebrauch.
Afrika und Nahost im Fokus
Auf der Tagesordnung standen selbstverständlich große globale Themen von Hunger über Klimaschutz bis zu Migration und Finanzarchitektur. Doch großen Andrang gab es vor allem bei Veranstaltungen zu den aktuellen Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten.
Dabei ging es immer wieder um dieselben Fragen:
Präsent waren beim WSF allerdings erstaunlich wenig linke Prominente aus arabischen Ländern. Zu den wenigen, die gesichtet wurden, gehörte Hamdeen Sabahi aus Ägypten. Er war bei der Präsidentenwahl 2012 überraschend auf dem dritten Platz gelandet und gilt aktuell als der wichtigste linke Politiker Ägyptens.
Gemäß der Charta des Weltsozialforums sind Parteien und Parteipolitiker allerdings offiziell nicht zugelassen, so dass Sabahi nur informell im Rahmen eines Workshops auftrat. Auch manche prominente Feministinnen aus dem arabischen Raum glänzten durch Abwesenheit.
Forum für Frauen und Genderthemen
Dennoch wurde das WSF faktisch zu einem Forum für Frauen und Genderthemen. Bei der Auftaktversammlung riefen rund 1.000 Frauen zu internationaler Solidarität auf. Besma Halfaoui, die charismatische Witwe des ermordeten linken tunesischen Oppositionspolitikers Chokri Belaid, hielt eine bewegende Rede. Sie scheint bereit, selbst in die Politik zu gehen.
Frauenorganisationen führten sehr viele Veranstaltungen durch. Es ging um politische Rechte, aber auch um gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Frauenarmut und Frauenarbeitslosigkeit. Genderbasierte Gewalt und sensible Themen wie die reproduktiven Rechte von Frauen wurden offen angesprochen, ebenso wie die Situation von Schwulen und Lesben in der arabischen Welt.
Vor dem WSF in Tunis war die interne Debatte über Entscheidungs- und Organisationsstrukturen intensiver geworden. Manche fragten, ob die globalisierungskritische Veranstaltungsreihe mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Start im brasilianischen Porto Alegre noch sinnvoll sei.
Tatsächlich ist nicht immer klar, ob sie noch eine politisch wirksame Aktionsform ist oder mehr eine Art "Karneval der Kulturen". Angesichts der globalen digitalen Vernetzung lässt sich darüber nachdenken, ob es nötig ist, dass Tausende gut situierte Aktive um die Welt jetten, um ein paar Tage von Workshop zu Workshop zu hetzen und Transparente in Kameras zu halten. Graswurzelarbeit wäre vielleicht wertvoller.
Diese Fragen sind nach Tunis so aktuell wie vorher. Doch eines hat sich geändert. Säkulare und globalisierungskritische Kräfte aus der arabischen Welt diskutieren jetzt auf Augenhöhe mit – und sie brauchen dafür nicht die Anwesenheit ihrer prominentesten Vertreter.
Martina Sabra
© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2013
Martina Sabra ist freie Journalistin und entwicklungspolitische Gutachterin.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de