Der starre Blick in die Vergangenheit

Der bekannte Publizist und Medienwissenschaftler Khaled Hroub kritisiert die Verfechter der Vorstellung von einer "kulturellen Eigenständigkeit" in der arabischen Welt. Seiner Ansicht nach ist dieser Diskurs nichts anderes als ein probates Mittel zur Verteidigung des arabischen Despotismus und der Rückständigkeit in der Region.

Foto Khaled Hroub; Foto: privat
Khaled Hroub stellt das Konzept der "kulturellen Eigenständigkeit", das gern von den arabischen Machteliten angeführt wird, in Frage. Voraussetzung dafür sei eine innere Einheit, die jedoch jedweder kulturellen Ordnung fehle.

​​"Die Globalisierung bedroht unsere kulturelle Eigenständigkeit: Man muss der Gefahr der Auslöschung unserer Kultur, Sprache und Religion entgegentreten!" Diese und ähnliche Warnrufe vernimmt man immer wieder in der arabischen Debatte, wenn es um die Beziehungen der islamisch-arabischen Gesellschaften zur Globalisierung geht, von einer "traditionellen Verpflichtung" ist dann gar die Rede.

Zwei Aspekte bedürfen dabei einer eingehenden Analyse: Zum einen, was unter kultureller Eigenständigkeit zu verstehen ist; zum anderen, welche Auswirkungen die Globalisierung auf die Kulturen der Welt tatsächlich hat.

Kulturelle Eigenständigkeit etwa kann vielerlei heißen: Tradition und Religion, bewusste und unbewusste gesellschaftliche Konventionen, Werte, die das Verhalten regulieren, Ansichten über Ästhetik sowie hieraus resultierende Formen politischer Herrschaft und des gesellschaftlichen Gehorsams.

Was bedeutet kulturelle Eigenständigkeit?

Gewöhnlich wird das Argument der "kulturellen Eigenständigkeit" aus einer Defensive heraus benutzt. Kulturelle Eigenständigkeit ist oft nur eine Facette der Identität und andersherum. Das Wesen der beiden kann man nur dann deutlich erfassen, wenn man sie mit kulturellen Eigenständigkeiten und Identitätsmerkmalen anderer vergleicht.

Meist gehen Verfechter dieser Idee innerhalb der arabischen Eliten von einer inneren Einheit dieser kulturellen Eigenständigkeit aus. Doch diese Einheit fehlt de facto innerhalb jedweder kulturellen Ordnung.

Kampf innerhalb der Zivilisationen

Viele, die der Theorie des "Clash of civilizations" anhängen, vergessen darauf hinzuweisen, dass der "Kampf innerhalb der Zivilisationen" oftmals stärker ausgeprägt ist. Kurz gesagt: Die Hypothese von der Existenz eines starren, einzigartigen und fortdauernden Modells kultureller Eigenständigkeit ist fraglich.

Eine verschleierte Frau vor der Skyline von Doha; Foto: AP
Die Globalisierung werde als Feind der eigenen kulturellen Identität stilisiert, so Hroub. Doch gerade Zivilisationen, die sich abschotten, seien von Stillstand geprägt.

​​ Wären Kulturen monolithische Blöcke, wären ihnen die Türen des fruchtbaren Zusammenlebens mit anderen Kulturen verschlossen – vielleicht ist dies der Grund für den Stillstand der islamischen Zivilisation.

Im Gegensatz dazu sind es vielmehr Formen flexibler, offener Eigenständigkeiten und nicht die verschlossenen gewesen, die Zivilisationen hervorbringen, die aufnahmefähig sind und Nutzen daraus ziehen, wenn sie die Erfahrungen der anderen assimilieren. Darin war die arabische und islamische Zivilisation in ihrer Blütezeit beispielhaft.

Imaginärer Feind Globalisierung

Die gegenwärtig kontrovers geführte arabisch-islamische Debatte hinsichtlich der Frage nach kultureller Eigenständigkeit ist von zwei Fakten weit entfernt: von der Wirklichkeit der heutigen Gesellschaften und von ihren historischen Erfahrungen. Einige Vertreter dieser Idee beschwören gerade jetzt Spannungen und Konflikte mit einem imaginären Feind herauf – der Globalisierung.

Dabei hat dieser Diskurs mit der Realität der arabischen Gesellschaften nichts zu tun. Von einer "Auslöschung" der arabischen Kultur kann ohnehin nicht die Rede sein, vielmehr handelt es sich um eine Blütezeit. Denn die Kernelemente der arabischen Kultur, die die Verfechter dieses Konstruktes von der Globalisierung bedroht sehen – das heißt die arabische Sprache, die Religion und die Tradition – blühen im Zeitalter der Globalisierung auf, das die arabischen Gesellschaften zur Zeit erleben.

Logos arabischer Fernsehsender; Foto: DW
Die befürchtete "Auslöschung" der arabischen Kultur kann Hroub nicht erkennen, vielmehr herrsche eine Blütezeit: Hocharabisch werde nicht nur in Rundfunkanstalten gepflegt, wie bei Al-Dschasira oder dem ägyptischen Sender Al-Mehwar.

​​ Zweifelsohne sind die arabischen Gesellschaften religiöser geworden, religiöser als vor dem Zeitalter der Globalisierung. Hocharabisch wird in Rundfunkanstalten, in Presse, an Schulen und Universitäten gepflegt. Konservatismus zeichnet die arabischen Gesellschaften aus, nicht Öffnung. Wo ist aber die viel beschworene, Furcht erregende Bedrohung unserer kulturellen Eigenständigkeit, die von der Globalisierung ausgehen soll?

Auch von der Geschichte der arabischen und islamischen Zivilisationen ist der Diskurs weit entfernt, wenn er von einer starren, geschlossenen kulturellen Eigenständigkeit ausgeht. Die historischen Erfahrungen islamischer Gesellschaften stehen nämlich im krassen Gegensatz dazu: Sie zeichneten sich durch Öffnung, Anpassungsfähigkeit und Selbstvertrauen aus.

Gesellschaftliche Heuchelei

Gefährlich ist die Idee der "kulturellen Eigenständigkeit" auch insofern, als dass sie als wirksames Mittel zur Verteidigung aller Facetten der arabischen Rückständigkeit und des arabischen Despotismus dient. Fragt man nach der Herrschaft des Mannes über die Frau in der Region, erhält man die Antwort, dass dies eben eines der Elemente "unserer kulturellen Eigenständigkeit" sei.

Valentinstag im Iran; Foto: picture alliance/dpa
In einigen islamischen Ländern ist das Feiern vom Valentinstag verboten. Khaled Hroub bezweifelt, dass die Globalisierung die kulturelle Identität der arabischen Welt bedroht, sondern die von konservativen Kräften geforderte Abschottung dem Machterhalt diene.

​​ Fragt man nach der Universalität der Menschenrechte, einschließlich der Rechte des Individuums auf Meinungsfreiheit, so bekommt man zu hören, dass dieses "weite Öffnen des Tores zur Freiheit" unsere kulturelle Eigenständigkeit bedrohe. Und wenn man noch einen Schritt weiter geht und danach fragt, wie weit die Demokratie notwendigerweise gehen soll, wird einem mit demselben Argument begegnet: Nämlich, dass die Demokratie nicht zur arabischen Gesellschaft bzw. zu ihrer kulturellen Eigenständigkeit passe.

Merkwürdig ist auch, dass diesem "Bündnis zur Verteidigung der kulturellen Eigenständigkeit" sehr verschiedene Akteure angehören: Da paktieren die Regierenden zeitweise mit lokalen Stammesangehörigen, mit Vertretern des politischen Islams oder zeitweise auch mit Globalisierungsgegnern jedweder politischer Couleur.

Starre Beziehung zur Außenwelt

Die arabischen Eliten verteidigen dieses diffuse Konzept der "kulturellen Eigenständigkeit", das für viele, die damit sympathisieren, zu einem romantischen Bild einer imaginären Situation geworden ist, das mit den Zwängen unserer zunehmend globalisierten Welt nicht viel zu tun hat.

In Wirklichkeit fördert das stoische Festhalten an diesem Konstrukt die starre Beziehung zur Außenwelt, geprägt von tiefem Argwohn, der suggeriert, dass alles, was von dieser Außenwelt zu uns durchdringt, Zerstörung und Ausrottung bedeuten muss. Es ist, als hätte diese Außenwelt nichts anderes im Sinn, als sich gegen diese "kulturelle Eigenständigkeit" zu verschwören und sie auszulöschen.

Dies führt letztlich dazu, dass die "kulturelle Eigenständigkeit" übermäßig betont wird und – aufgrund dieses Bedrohungsszenarios – die Spannungen zwischen den arabischen Gesellschaften und der restlichen Welt weiter wachsen. Und dies, obwohl die arabischen Gesellschaften der Gegenwart nach Befreiung von einem solch starren Denkmodell streben und mit einem Geist der Offenheit den Veränderungen und Anforderungen der Moderne begegnen sollten.

Khaled Hroub

© Qantara.de 2008

Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien

Dr. KHALED HROUB ist Direktor des Cambridge Arab Media Project (CAMP) am Centre of Middle Eastern and Islamic Studies (CMEIS) der Universität Cambridge. Der bekannte Publizist schreibt für führende arabische Tageszeitungen wie Al-Hayat und Al-Bayan, er moderierte Sendungen auf Al-Dschasira TV.

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Centre of Middle Eastern and Islamic Studies der Universität Cambridge