"Wir sorgen für eine Balance in der Nahostpolitik"
Im Interview mit Qantara.de plädiert der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu für eine weitreichende Kooperation mit den Ländern des Nahen Ostens sowie für eine Politik des politischen Ausgleichs und der Verständigung in der Region. Ayşe Karabat hat sich mit ihm unterhalten.
In der Vergangenheit hat sich die Türkei stets aus den innerarabischen Konflikten herausgehalten, doch das scheint sich nun zu ändern. Wie erklären Sie sich diesen Wandel und was ist das Ziel dieses außenpolitischen Kurswechsels?
Ahmet Davutoğlu: Es stimmt, dass die türkische Außenpolitik in der Vergangenheit eine Distanz zu innerarabischen Konflikten gewahrt hat. Dies mag früher auch vernünftig gewesen sein, ist es heute aber nicht mehr. Wir engagieren uns heute stärker, weil wir erkannt haben, dass Spannungen zwischen zwei Ländern die Stabilität in der gesamten Region gefährden und weitere Probleme nach sich ziehen können. Unsere Vermittlungsversuche werden nicht als Einmischung von außen empfunden, sondern durchaus als Ausgleich, der aus der Region kommt. Manchmal versuchen arabische Staaten, die sich um Legitimierung ihrer Politik bemühen, ganz bewusst den Rückhalt der Türkei zu gewinnen. So sind wir zu einem Land geworden, dass eine Balance in der Nahostpolitik schafft.
Für diesen Erfolg gibt es zwei Gründe: zum einen liegt das an unserer starken Wirtschaft und zum anderen an unserem Demokratisierungsprozess. Früher wurden alle, die russisch sprachen, als Kommunisten und damit als Bedrohung angesehen. Auch Offizielle, die armenisch oder arabisch sprechen, finden sich wenige. Heute aber haben wir solche Vorurteile abgelegt. Je weiter wir mit der Demokratisierung voranschreiten, desto selbstbewusster werden wir.
"Keine Probleme mit den Nachbarn" und "maximale Zusammenarbeit" sind Prämissen Ihrer neuen Außenpolitik. Doch wie realistisch lassen sich diese Leitsätze - gerade in einer Region wie dem Nahen Osten - denn auch wirklich umsetzen?
Davutoğlu: Das sind zweifellos unsere wichtigsten Ziele. Doch zuallererst geht es um Gegenseitigkeit in der politischen Willensbildung. Wir haben nie behauptet, dass es keine Probleme gibt. Doch es geht uns darum, Beziehungen zu anderen Staaten aufzubauen, um ein politisches Klima zu schaffen, das dazu beiträgt, Probleme zu lösen und nicht neue zu schaffen. Unser wichtigstes Anliegen hierbei ist "Reintegration". Wenn man sich nur auf Risiken und imaginäre Bedrohungsszenarien konzentriert, wird man überall nur Gefahren erkennen. Diese Szenarien versuchen wir zu beseitigen und stattdessen die "Reintegration", das heißt die Kooperation mit den Staaten der Region, zu fördern.
Natürlich gibt es Risiken, doch nicht auf sie sollte sich unsere Wahrnehmung richten, sondern auf eine Vision. Eine solche geht von vier Prinzipien aus: wirtschaftliche Kooperation, ein gemeinsames Sicherheitsverständnis, ein strategischer Dialog auf höchster Ebene und die Koexistenz eines multikulturellen und multireligiösen Lebens. Wenn wir in unserer Region auch wirklich kooperieren würden, wäre die Situation heute eine andere. Es mag Ihnen als Utopie erscheinen, doch stellen Sie sich nur vor, in den nächsten 20 Jahren würden wir Stabilität und eine spannungsfreie Zeit in der Region erreichen. Wir wären reicher als mancher Schwellenstaat.
Es gibt gegenüber den Absichten Ihrer Politik einige Skepsis. Einige vermuten, Sie wollten sich mit ihren guten Beziehungen zum Nahen Osten die Eintrittskarte in die EU erkaufen, andere meinen, Sie strebten gar eine Rückkehr zur "osmanischen Hegemonie" innerhalb der Region an.
Davutoğlu: Unsere Anstrengungen sind weder auf Prestige noch auf unser bloßes Eigeninteresse gerichtet. Uns geht es darum, dass die Staaten der Region selbstverantwortlicher agieren und wir zu einem einheitlichen Ansatz für die Region als Ganzes gelangen. Staaten können weder ihre Geschichte noch ihre geographische Lage verändern, doch können sie sie neu interpretieren und entdecken. Und das ist es, was die Länder des Nahen Ostens heute tun müssen. Es handelt sich um global aufstrebende Mächte, und wenn sie auf dem Weg zum Wohlstand nicht miteinander kooperieren, ist es unvermeidlich, dass die Region zum Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen diesen Staaten wird. Dabei gehört doch die Region uns allen, sie ist unser Zuhause.
Schließlich sollten wir uns darüber klar werden, wie wir diese Zusammenarbeit organisieren und keine Sicht eines Einzelnen sollte anderen aufgezwungen werden. Auch sollten wir die Schuld nicht bei anderen suchen, ihrem Kolonialismus und Imperialismus. Wir sollten unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen, wobei Kooperation und "Reintegration" notwendig dazugehören. Die Basis hierfür findet sich in unserer Geschichte und Geografie. Werden wir in unserer Region miteinander streiten und konkurrieren, wodurch andere Mächte reicher und reicher werden, weil sie unsere Ressourcen und Arbeitskraft nutzen können? Oder aber werden wir in der Lage sein, unsere Stärken zu bündeln, um eine neue goldene Ära einzuläuten, die einst so viele für die Zivilisation bedeutsame Errungenschaften hervorbrachte?
Die Türkei versucht auch zwischen den westlichen Staaten und dem Iran im Streit um das Atomprogramm zu vermitteln. Glauben Sie, dass Ihre Anstrengungen ausreichen werden, um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern?
Davutoğlu: Wir wollen keine nuklearen Waffen in der Region – ganz egal in welchem Land. Gleichzeitig verteidigen wir aber das Recht eines jeden Landes, die Kernkraft friedlich zu nutzen. Wir hatten viele Treffen und Kontakte mit iranischen Offiziellen. Verschiedene Optionen lagen auf dem Tisch. Wie Sie wissen, fand sich darunter auch der Vorschlag, dass ein Drittland - wie die Türkei - der Ort sein sollte, an dem schwach angereichertes Uran aus dem Iran gegen höher angereicherten Kernbrennstoff ausgetauscht werden könnte. Wir sind für jeden Schritt offen, der einen positiven Beitrag leisten könnte.
Kürzlich war ich zu Gesprächen im Iran und erfuhr, dass die Regierung aus internen Gründen daran festhält, diesen Austausch zunächst auf iranischem Boden durchzuführen, dass die Türkei hierin jedoch einbezogen werden könnte. In jedem Fall sind wir gegen harte Sanktionen gegen den Iran oder gar eine militärische Operation, die die Stabilität der gesamten Region gefährden würde. Wir sind davon überzeugt, dass die Diplomatie noch Chancen auf Erfolg hat.
Der Friedensprozess im Nahen Osten ist ein weiterer Bereich, in dem sich die Türkei hervortut. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation im Nahostkonflikt ein?
Davutoğlu: Wir brauchen keine "Roadmap", wir müssen vielmehr jetzt endlich ans Ende der Straße gelangt sein. Das Nahost-Quartett (gebildet aus hochrangigen Vertretern der USA, der EU, Russlands und der Vereinten Nationen) hat an Bedeutung für den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern verloren. Die Palästinenser sind innerhalb des Nahost-Quartetts nicht repräsentiert. Es muss eine klare Vision eines Palästinenserstaates geben, und dieser Staat sollte international anerkannt werden. Wir sollten nicht länger von einer "Roadmap" sprechen. Die Menschen wollen das Ende dieses Weges sehen und nicht ständig neue Prozesse ohne festen Zeitrahmen.
Es kann keine Lösung geben, solange zwischen unseren palästinensischen Brüdern keine Einheit herrscht. Wir schätzen die ägyptischen Anstrengungen, zwischen den rivalisierenden Palästinensergruppen zu vermitteln und sind bereit, unsererseits einen Beitrag zu leisten. Aber auch innerhalb der israelischen Regierung ist keine einheitliche Linie zu erkennen. Premierminister Netanyahu, Außenminister Lieberman und Verteidigungsminister Barak verfügen über keine gemeinsame Vision der Zukunft. Siedlungen sind keine Option, solange solche Widersprüche weiter fortbestehen.
Schließlich müssen die westlichen Staaten endlich erkennen, dass die jahrzehntelange israelische Besatzung ein Ende haben muss und dass wir eine Lösung auf Grundlage der Grenzen vor 1967 brauchen. Alle Friedensanstrengungen müssen ein klares politisches Ziel haben. Und eine Bedingung hierfür besteht darin, dass Israel an den Verhandlungstisch zurückkehrt.
Ihre Beziehungen zu bestimmten Staaten, etwa zum Iran oder zum Sudan, haben angesichts der dortigen Menschenrechtsverletzungen auch Kritik hervorgerufen. Glauben Sie nicht, dass sich diese Staaten durch ihre Beziehungen zur Türkei in ihrer kompromisslosen politischen Haltung grundsätzlich bestätigt fühlen?
Davutoğlu: Dazu muss man sagen, dass einige derer, die uns wegen dieser Beziehungen kritisieren, manchmal zu uns kommen, um von ebendiesen Kontakten zu profitieren. So wurde beispielsweise das türkische Engagement im Sudan genutzt, um es einigen NGOs zu ermöglichen, dort weiter zu arbeiten. Aus humanitären Gründen wurden in der Vergangenheit einige unserer diplomatischen Aktivitäten geheim durchgeführt – so waren wir mehrfach an den Bemühungen zur Freilassung von Inhaftierten oder Geiseln beteiligt. Ich will diesbezüglich aber nicht ins Detail gehen. Natürlich sprechen wir gegenüber unseren Verhandlungspartnern auch den Stellenwert der Einhaltung der Menschenrechte an. Doch tun wir das nicht in der Öffentlichkeit – das ist eine Frage der Aufrichtigkeit.
Manchmal treffen sich Oppositionsgruppen und -führer unterschiedlicher Länder in Istanbul und haben dabei auch Kontakte zu türkischen Offiziellen. Unsere Botschaft an die Länder, aus denen diese Gruppen stammen, ist jedoch klar: "Nichts wird in der Türkei stattfinden, was Euch schaden könnte, doch müsst auch Ihr die Opposition in Eurem Land tolerieren." Diese Länder glauben an unsere guten Absichten und vertrauen deshalb auf unsere Zusicherungen.
Wir wissen, wie gravierend sich der Respekt vor den Menschenrechten vom Terrorismus unterscheidet. Als die Türkei Mitglied des UN-Sicherheitsrates wurde, bestand meine erste Instruktion für unsere Mitarbeiter darin, an allen Treffen zum Thema Menschenrechte teilzunehmen. Ich sagte ihnen, dass die Menschenrechte oberste Priorität erhalten sollten und dass in dieser Frage keine Abstriche gemacht werden dürften.
Interview: Ayşe Karabat
© Qantara.de 2010
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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