"Ich betrachte mich jetzt schon als Palästinenser"
Ein typisch englisches, gemütliches Reihenhaus aus rotem Backstein, unweit vom swingenden Londoner Stadtzentrum: Hier lebt der Jazzmusiker Gilad Atzmon zusammen mit seiner Frau, der israelischen Sängerin Tal Atzmon, und seinen beiden Kindern. Viel Zeit für die Familie bleibt ihm nicht. Seit er im vergangenen Juli mit dem "Orient House Ensemble" für die CD "Exile" den Preis der BBC für das beste Jazz-Album des Jahres erhielt, ist der Musiker, der unter anderem mit der verstorbenen Rock-Legende Ian Dury spielte, noch gefragter als zuvor. Darüber hinaus ist soeben Atzmons erster Roman auf Deutsch erschienen. Im Oktober und November tourte der Saxofonist und Klarinettist parallel mit Lesungen und Konzerten durch Deutschland. Und als wäre das nicht schon stressig genug, paukt Atzmon auch noch in jeder freien Minute Spanisch: auf dem Rücksitz seines Autos stapeln sich Sprachlern-Kassetten. Atzmon hat während einer Konzert-Tour in Argentinien seine Leidenschaft für den Tango entdeckt. "Ich will so bald wie möglich mit dem "Orient House Ensemble" nach Argentinien, und dort mit Tango-Musikern arbeiten", schwärmt der Musiker. "Tango ist dramatisch und erotisch, genau das, was ich immer machen wollte."
Abkehr vom jüdischen Staat
Zuhause, zwischen Küche, Konzertflügel und Kinderzimmer, ist abwechselnd Englisch und Hebräisch zu hören. Gilad Atzmon ist in Israel geboren und aufgewachsen, ebenso wie seine Eltern. Doch er hat dem jüdischen Staat den Rücken gekehrt und ist seit kurzem britischer Staatsbürger: nicht nur aus beruflichen Gründen, erklärt Atzmon, sondern auch, weil er den religiös begründeten Zionismus als Staatsideologie ablehne. Seine Eltern hätten zwar politisch zum rechten Lager gehört. Doch er habe die Palästinenser nie als Feinde gesehen. "Ich habe 1982 beim Einmarsch in den Libanon viele Tote gesehen, die meisten Syrer und Palästinenser. Und ich erinnere mich, dass sie für mich wie Israelis waren: Menschen, die bei diesem dummen, blutigen Spiel mitspielten. Ich fühlte mich ihnen trotz allem nahe. Als dann einige meiner Kameraden begannen, die halbverwesten toten Menschen auf den Panzern zu fotografieren, wie Trophäen, da fühlte ich: ich will mit all dem nichts zu tun haben, nicht mit Israel, nicht mit dem Zionismus."
"Ich betrachte mich schon jetzt als Palästinenser"
Atzmons Debütroman, den er jetzt persönlich in Deutschland vorstellt, heißt "Anleitung für Zweifelnde", und trägt damit wohl nicht ganz zufällig denselben Titel wie das Werk, mit dem der jüdische Philosoph Maimonides vor über 800 Jahren seine jüdischen Zeitgenossen zurück auf den rechten Weg führen wollte. Doch im Gegensatz zu seinem akademischen Vor-Vor-Vater entwirft der ehemalige Philosophiedoktorand Gilad Atzmon keine scholastischen Denkgebäude, sondern eine satirisch-moderne Sicht auf die Welt. Der Roman spielt im Jahr 2052: der Zionismus ist tot, Israel ist als jüdischer religiöser Staat an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert. Gilad Atzmons Alter Ego, der Philosophieprofessor Gunther Wanker ist aus Israel nach Deutschland ausgewandert, hat die 'Peepologie' erfunden, und nach seinem Tod ein umfangreiches wissenschaftliches Werk hinterlassen. Die Peepologie, oder "Wissenschaft von Voyeurismus und Assimilation", basiert auf der freien Liebe und soll die Juden und die Menschheit vor sich selbst retten. Was sich liest wie eine bitterböse Satire auf die Regierung Ariel Scharons, davon ist Gilad Atzmon zutiefst überzeugt: "Wenn man bedenkt, dass in weniger als zehn Jahren mehr Nichtjuden als Juden zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben werden, dann ist doch eigentlich klar, dass es im Nahen Osten irgendwann einen Staat Palästina geben wird. Ich betrachte mich schon jetzt als Palästinenser", sagt der Künstler augenzwinkernd.
Förderung von Antisemitismus?
Als der Roman im Jahr 2001 in Israel im hebräischen Original erschien, war das Echo in der israelischen Presse sehr positiv. Doch ein literarisches Meisterwerk ist die "Anleitung für Zweifelnde" nicht. Die Grundidee ist zwar originell, der Text stellenweise hervorragend geschrieben. Die einfache Handlung und die inhaltlichen Wiederholungen wirken allerdings auf die Dauer ein wenig ermüdend. Und angesichts des zunehmenden Rassismus in Deutschland stellt sich auch die Frage, ob Atzmons Buch möglicherweise Antisemitismus fördert: Gilad Atzmon ist das egal. Es habe schon Bedenken bei der Übersetzung ins Deutsche gegeben, räumt er ein. Aber er habe keine Angst: "Wenn Leute meine Ideen benutzen wollen, um irgendetwas zu rechtfertigen oder ihre eigene Agenda durchzuziehen: bitte schön! Vergessen Sie nicht: dieses Buch ist eine Fiktion. Es beschreibt den Prozess der Ablösung, von einer Entfremdung, vom selbstauferlegten Exil, und ich denke, wenn Sie es als Deutsche lesen, denken Sie vielleicht dabei an sich selbst."
Martina Sabra
© Qantara.de 2003