Auf dem Sufi-Pfad in jüdischem Gewand
Im Judentum dürfen Texte nicht vernichtet werden, in denen Gottes Namen zitiert wird – auch dann nicht, wenn es keine Verwendung mehr für sie gibt. All solche Texte bewahrt man in den Synagogen in speziellen Räumen auf, genannt geniza, hebräisch für "Versteck". Als man vor mehr als 100 Jahren die Geniza der Ben Esra-Synagoge in Kairo öffnete, machte man einen erstaunlichen Fund: Der vermauerte Hohlraum enthielt arabische und hebräische Werke von muslimischen Mystikern und pietistische Schriften jüdischer Autoren aus dem Mittelalter, die eindeutig von Sufis inspiriert waren. Viele dieser Schriftstücke stammen aus der Zeit von Rabbi Abraham Maimonides (1186-1237), dem Sohn des jüdischen Philosophen Moses Maimonides. Rabbi Abraham "he-Hasid" ("der Pietist") war die religiöse und politische Führungspersönlichkeit seiner Zeit und bedeutender Vertreter der sufischen Form jüdischer Frömmigkeit, die in hebräischen Schriften hassidut genannt wird. Der Titel "he-hasid" bezeichnete einen Frommen, der einem spirituellen Pfad folgte, ähnlich wie bei den muslimischen Sufis.
Sufitum als prophetische Tradition
Rabbi Abraham gab in seinen Werken seiner Bewunderung für die Sufis offen Ausdruck: Er stellt biblische Figuren als Pietisten mit sufischem Habitus dar und schreibt, die Sufis seien wahre Erben israelitischer Traditionen. Charakteristische Sufi-Rituale führt er auf die israelitischen Propheten zurück – die Juden hätten durch viele Heimsuchungen des Exils diese spirituellen Traditionen nur vergessen und müssten sie wiederentdecken. Doch Abraham beließ es nicht bei der reinen Theorie, sondern führte eine Reihe von Neuerungen beim Gebet in der Synagoge ein: Die Waschung der Hände und Füße vor dem Gebet, was im jüdischen Ritus eigentlich nicht vorgeschrieben ist; die Ordnung der Betenden in Reihen wie im islamischen Gemeinschaftsgebet; die Ausrichtung nach Jerusalem, so wie Muslime sich im Gebet nach Mekka wenden; und schließlich verschiedene Haltungen beim Gebet, wie das Stehen, Knien, Verbeugen und das Ausstrecken der Hände beim Bittgebet. Am auffälligsten aber sind die typischen Übungen der Sufis: zum einen die hitbodedut-Praxis, die Meditation in Einsamkeit und Dunkelheit, sowie das Ritual des dhkir (Arabisch "Gottesgedenken"). All diese neuen Praktiken, die er nun im Islam wiederentdeckt, führt Abraham auf alttestamentarische Vorbilder zurück.
Fast 200 Jahre lang führte die Familie von Abraham Maimonides diese sufisch geprägte pietistische Tradition fort. Auch war diese Tradition der sufisch-jüdischen Frömmigkeit kein lokaler Einzelfall in Ägypten; bei den andalusischen Juden vor ihrer Vertreibung, den Juden in Damaskus, im Jemen, Palästina und in Persien finden sich ebenso zahlreiche Spuren einer sufisch geprägten jüdischen Mystik.
Die Kabbalisten in Spanien und Palästina
So existieren in der esoterischen Lehre der spanischen Kabbalisten um Rabbi Abraham Abulafia (1240-1291) starke Ähnlichkeiten zu den Ritualen islamischer Mystiker: komplizierte Gesänge, kontrollierte Atemtechniken und charakteristische Kopfbewegungen. Dies alles waren Praktiken, die es in der Kabbala des vor-mittelalterlichen Judentums nicht gab. Abulafia importierte den ekstatischen Aspekt des sufischen dhikr-Rituals in die Kabbala. Dabei wird der Name Gottes solange wiederholt, bis man einen tranceartigen Zustand erreicht.
Die berühmte kabbalistische Schule von Safed in Galiläa dürfte auch von Sufis beeinflusst worden sein. Safed war im 16. Jahrhundert, also der Zeit das Kabbalisten Isaak Luria, ein blühendes Zentrum der islamischen Mystik mit einem örtlichen Sufi-Konvent, wie der türkische Reisende Evliya Tschelebi berichtet. Auffällige Parallelen: Bei den spirituellen Konzerten der Kabbalisten (baqashot) werden ähnlich wie bei den Mevlevi-Derwischen mystische Verse gesungen. Die Bildung von spirituellen Bruderschaften um die Person eines Heiligen kommt hier auf; darüber hinaus etabliert sich auch hier die Praxis des hitbodedut (Arabisch khalwa) und den dhikr (Hebräisch hazkarah).
Die Sabbatäer und die Chassidim
Während seiner Verbannung im osmanischen Adrianopel (heute Edirne in der Türkei) nahm der mystische Messias Sabbatai Zewi, der später zum Islam konvertierte, an dhikr-Ritualen von Bektashi-Derwischen teil. Seine Anhänger hielten weiterhin Verbindung zu diesen Derwischen und nahmen einige Rituale und spirituelle Gesänge von den Bektashis in ihre eigenen Zeremonien auf.
Auch die osteuropäische Bewegung der Chassidim des 18. Jahrhunderts könnte unter muslimischen Einfluss gestanden haben: Die einst von den Osmanen beherrschte südpolnische Provinz Podolien, von wo aus der osteuropäisache Chassidismus sich ausbreitete, war ein Zentrum der Sabbatäer (der Anhänger von Sabbatai Zewi), welche Kontakte ins osmanische Saloniki hielten – eine regelrechte Hochburg der Sabbatäer. Kabbalistische und chassidistische Riten sind auch heute noch eine wichtige Tradition im Judentum, vor allem in den USA und in Israel. Wer also vom "christlich-jüdischen Erbe des Abendlandes" spricht, verschließt bewusst die Augen vor dem jüdisch-muslimischen Erbe und der gemeinsamen spirituellen und philosophischen Tradition von Judentum und Islam. Wie so oft gibt es neben dem Trennenden auch zahlreiche gemeinsame, verbindende Elemente.
Nimet Seker
© Qantara.de 2010
Literatur: Paul B. Fenton: Jüdische und islamische Mystik. Übersetzung aus dem Englischen von Axel Monte. Books Ex Oriente (2009) Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de