Gottesfurcht und Gegenbesuch
Die Off-Kunst in Istanbul hat in den letzten Jahren wichtige Nischen für einen gesellschaftlichen Dialog geschaffen - in unabhängigen Kunsträumen und jenseits der etablierten Kunstszene. Irmgard Berner hat sich in der Ausstellung "Istanbul-Off-Spaces" in Berlin Kreuzberg umgesehen
Sie heißen "Hafriyat", "atilkunst" oder "Apartman Project" und sind unabhängige Kunsträume in Istanbul. "Hafriyat" bedeutet so viel wie "Baustelle" und ist zugleich der Name einer der ersten und bis heute wichtigsten nichtkommerziellen Projekträume der Türkei.
In den letzten Jahren stieg die Zahl dieser Initiativen in Istanbul, wo es so gut wie keinen freien Kunstmarkt gab. Künstler und Kuratoren reagierten damit auf die vorhandenen Verhältnisse der institutionalisierten Kunstszene.
Mit wachsendem Selbstbewusstsein. Künstlergruppen führen einen intensiven Dialog untereinander und antworten auf die gesellschaftlichen und zivilrechtlichen Veränderungen vor Ort. Für kurze Zeit bietet nun das Kunsthaus Kreuzberg Bethanien eine äußerst aufschlussreiche Plattform für ihre Projekte – nicht umsonst, denn Berlin pflegt eine lange Partnerschaft mit der Stadt am Bosporus.
Die Botschaft der "Mayhas"
So leuchtet der türkische Schriftzug "Sadede Gel" in den Berliner Nachthimmel hoch oben zwischen den Türmen des Bethanien. Sinngemäß heißt das "Komm' auf den Punkt".
Für die türkische Nachbarschaft sind solche Botschaften, genannt "Mayhas", geläufige Sprüche, da sie in muslimischen Ländern während des Ramadan als Lichterketten zwischen Minarette gespannt werden. Früher galten Mayhas als mächtiges Nachrichtenmittel der Herrschenden für ihre religiösen oder moralischen Botschaften.
Mit diesem markanten Zeichen sendet die Künstlergruppe "atilkunst" hier aber nicht nur eines ihrer "public images" in den offenen Raum, sondern setzt mit dieser traditionellen Form der Botschaftsvermittlung ein gesellschaftspolitisches Signal. Und es ist der ironische Auftakt zu dem mehrfachen Dialog in der Ausstellung "Istanbul-Off-Spaces".
Die eine Seite des Dialoges der Off-Spaces: Künstler in Istanbul tun sich zusammen und lernen voneinander. Sie bündeln ihre Produktionskräfte und setzen die Kollektiv-Vernunft gegen das bis zur Verzweiflung lähmende Kunst-Establishment ein.
In den letzten Jahren haben sich dadurch wichtige Plattformen herausgebildet. Der Auftritt der Kunst wirkt dabei wie eine Initialzündung. Denn diese Räume, so klein sie auch sein mögen, werden oft zu einem Treffpunkt für Wissenschaftler, Architekten, Stadtplaner, künstlerische Initiativen und Organisationen.
Mutige Reibungsflächen im repressiven Klima
Ihre Gegenentwürfe für eine interdisziplinäre Kunstpräsentation, die mutige Reibungsflächen in einem nach wie vor repressiven Klima einer sich als Einheitsstaat definierenden Türkei bieten, zeigen sie nun im Bethanien.
Schon im breiten Flur durchläuft man einen Bilderkosmos zum Thema "Gottesfurcht". Grafiken und Schriftbilder weisen darin auf die seit Menschengedenken zum Machterhalt produzierte Angst hin. Diese Plakatsammlung von 2007 stammt von der Künstlergruppe "Hafriyat".
Sie betreibt in einem kleinen Ladenlokal im Istanbuler Hafenviertel Karaköy jenseits des kommerziellen Dunstkreises der konservativen, von Banken und Institutionen getragenen, offiziellen Kunstszene zwischen Autowerkstätten und Bordellen ihren Raum.
Die laufenden Kosten kann die Gruppe dank der Mitgliedsbeiträge und engagierten Unterstützung aus der Nachbarschaft wie Apotheken, Nachtlokalen und Produktionsfirmen bestreiten und so ihre Unabhängigkeit bewahren.
Workshops und Performances im Fokus
Welche Ziele diese unabhängigen Initiativen der Off-Kunst verfolgen, wie sie arbeiten – auch im Vergleich zu geförderten Kunsträumen in Berlin – wird anhand von Bildern, Texten, Videos und Installationen nachvollziehbar. Das "Apartment Project", von der Videokünstlerin Selda Asal 1999 gegründet, arbeitet auf der Basis von Workshops und Performances.
Asal und Serdar Ateser haben in Berlin bereits mit Schülern des Kurt-Löwenstein-Gymnasiums Neukölln ein Musikvideoprojekt entwickelt. Ihre aktuelle Arbeit in der Ausstellung heißt "Gegenbesuch", eine Aktion, an der sich zehn türkische Künstler beteiligten.
In Großprojektionen zeigen sie ihre Reisen nach Georgien, Armenien und Iran, die sie gerade wegen der politischen Streitigkeiten dieser Länder unternahmen. Die Filmsequenzen führen den brisanten Hintergrund vor Augen: türkischen Staatsbürgern ist es verboten, in ihr Nachbarland Armenien einzureisen – und umgekehrt.
Die Künstler nutzten den Brauch des "Gegenbesuchs", der in diesen wie in arabischen Ländern nachbarschaftliche Beziehungen fördert, als kulturelle Gegenmaßnahme und konnten so Einreiseverbote und Grenzmauern aufheben.
Als Video-Organisation versteht sich die zur Nachwuchsszene zählende Gruppe "Kurye". Im Mittelpunkt ihres Konzeptes steht das Bild, das gegenwärtig immer und überall erreichbar ist und permanent zirkuliert.
Plattformen für politische Inhalte
Sie arbeitet mit einem Archivsystem, organisiert thematische Videoveranstaltungen, internationale Festivals, Ausstellungen – auch im Internet - und fungiert als Agentur. Das Kurye-Archiv ist inzwischen auf 620 Videoarbeiten von 250 Künstlern aus 32 Ländern angewachsen; beeindruckend ist, dass es täglich weiter wächst.
Die andere Seite des Dialoges in dieser Schau liegt in der Städtepartnerschaft Berlin-Istanbul begründet, die bereits ihr 20-jähriges Bestehen begeht. Man kann es nicht hoch genug bewerten, dass der Austausch mit den wenigen vorhandenen Künstlergruppen gepflegt und ein anderes als das Zerrbild des Landes am Bosporus vermittelt wird.
Im Unterschied zu Berlin bieten die Istanbuler Projekträume aber keine Sprungbretter für angehende Künstlerkarrieren, sondern Aktionsfreiräume und Plattformen für politische Inhalte, gesellschaftlich tabuisierte Themen wie Schwulen und Lesben oder "Frau und Stadt".
Und dazu reicht schon mal ein Schaufenster, wie der Raum "Artik mekan" mit gerade mal zwei Quadratmetern beweist, den die Künstlerinnen Gonca Sezer und Yesim Agaoglu in einem alten Teehaus ebenfalls in Karaköy betreiben. Denn "auf den Punkt kommen" kann man auch in den winzigsten Räumen.
Irmgard Berner
© Qantara.de 2009
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Mehr Infos auf der Website von Istanbul-Off-Spaces