"Die Religion ist für Gott, die Heimat ist für Alle"
Die Szene war bemerkenswert und für viele besorgniserregend: Am 18. Februar, dem "Freitag des Triumphs", beteten etwa zwei Millionen Muslime auf dem Tahrir-Platz, geleitet vom prominenten TV-Scheich Yussuf al-Qaradhawi, der den Muslimbrüdern sehr nahe steht. Ein neuer Khomeini, der eine neue islamische Revolution anführt?
Gewiss nicht - denn al-Qaradhawi ist kein Führer und die Revolution des 25. Januars in Ägypten ist keine islamische. Trotzdem war die Szene an jenem Tag "islamisch", vor allem als al-Qaradhawi nach dem Gebet zu den Mengen sprach.
Denn seine Anhänger erlaubten es niemandem, ans Mikrophon zu gehen und zu den Millionen zu sprechen. So wurden sowohl Wael Ghonim, einer der Anführer der Revolution, als auch der Journalist und Aktivist Hussein Abdel-Ghani daran gehindert, das Wort zu ergreifen. War das eine Machtdemonstration seitens der Muslimbrüder?
Die Sorge, dass die Muslimbrüder durch freie Wahlen die Macht am Nil übernehmen könnten, bewegt viele nach der Revolution dazu, den Säkularismus als Leitprinzip in die Verfassung zu verankern.
Deshalb verlangen viele Intellektuelle, Künstler und Demokratieaktivisten, Artikel zwei der jetzigen Verfassung abzuschaffen. Der sieht die Scharia, die normative Instanz der islamischen Gesetzgebung, als einzige Rechtsquelle vor.
"Die Religion ist für Gott, die Heimat ist für alle"
Einer der Befürworter der Abschaffung dieses Artikels ist der Schriftsteller Edwar al-Kharrat, dessen Werk in viele Sprachen, darunter ins Deutsche, übersetzt wurde. "Man muss klar zwischen dem Herrschaftssystem und der Religion trennen. Das alte Motto der liberalen Zeit in Ägypten ist noch immer gültig: Die Religion ist für Gott, die Heimat ist für alle", sagt der 84-jährige al-Kharrat.
Die junge, erfolgreiche Schriftstellerin Miral al-Tahawi, die zur Zeit in den USA lebt und arabische Literatur unterrichtet, hat eine Erklärung unterschrieben, in der eine große Anzahl von Schriftstellern und Künstlern die Aufhebung dieses Artikels fordert. "Die Reaktionen auf diese Erklärung zeigt, dass die arabischen Völker dies im Moment nicht akzeptieren", sagt al-Tahawi.
Die Unterzeichner wurden abfällig als "Anhänger des Säkularismus" abgestempelt, deren Ziel lediglich "die Bekämpfung der islamischen Identität des Landes" sei. Im Gespräch mit Qantara weist al-Tahawi auf die Religiosität der Amerikaner hin, "jedoch sind in den USA alle Bürger vor dem Gesetz gleich, egal welche Hautfarbe oder Religion sie haben".
Für den bildenden Künstler Youssef Limoud ist die Forderung nach der Änderung dieses Artikels "die wichtigste nach der Revolution und die Garantie für eine demokratische Gesellschaft". Er als Muslim werde durch diesen Artikel bevorzugt, sagt Limoud, "was ist aber mit meinem koptischen Nachbarn? Und wie steht es mit den Nicht-Religiösen?"
"Ja, aber nicht jetzt"
Der Romancier Mekkawy Said unterstützt die Aufhebung des Artikels zwei, "jedoch nicht jetzt, denn dies würde im Moment zur Spaltung der politischen Kräfte führen".
Diese Meinung vertritt auch der Schriftsteller Ezzat al-Qamhawi. "Die Aufhebung dieses Artikels wird nicht nur zu Auseinandersetzungen mit den Muslimbrüdern führen, sondern mit einem breiten Spektrum in der Gesellschaft". Diese Verfassung, fügt er hinzu, sei provisorisch wie die Regierung. Man müsse aber in der ständigen Verfassung den Artikel ändern bzw. aufheben.
"Die Änderung ist notwendig, aber der Zeitpunkt ist unpassend", sagt auch Emad Gad, stellvertretender Direktor des Ahram-Zentrums für politische und strategische Studien in Kairo. "Es ist unmöglich, einen zivilen Staat zu begründen, wenn dieser Artikel weiter besteht. Es sind die Vertreter des Militärrats und der Muslimbrüder sowie die alte Garde, die diese Frage jetzt aufwerfen, um eine Spaltung herbeizuführen und von den Hauptforderungen des Volkes abzulenken."
Die Aufhebung der Notstandgesetze, die Bildung einer neuen Regierung, der keiner vom alten Regime angehört, sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen hätten zurzeit Vorrang.
Dies bestätigt auch der renommierte Politikwissenschaftler Nabil Abdel-Fattah. Er erinnert daran, wie der Artikel überhaupt in die jetzige Verfassung kam: "Der frühere Präsident Anwar al-Sadat wollte sich damals bei den Vertretern der religiösen Strömungen in der Gesellschaft anbiedern" sagt er. Im Zuge der Änderung von Artikel 77 in der Verfassung machte Sadat ein Zugeständnis an die islamische Opposition, was Abdel-Fattah als " kriminellen Akt" bezeichnet.
Denn durch diese Änderung war die Amtszeit des Staatspräsidenten nicht mehr begrenzt. Zwar profitierte Sadat von dieser Änderung nicht mehr, da er kurz darauf von den von ihm geförderten Islamisten ermordet wurde, jedoch konnte sein Nachfolger, Hosni Mubarak, mit Hilfe des Artikels 77 dreißig Jahre lang herrschen, bis die Revolution des 25. Januars 2011 seiner Herrschaft ein Ende setzte.
Samir Grees
© Qantara.de 2011
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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