"Ich will nationale und nationalistische Grenzen überwinden"
Wieder einmal steht die Meinungsfreiheit in der Türkei auf dem Prüfstand: Die junge türkische Autorin Elif Shafak wurde nach Veröffentlichung ihres letzten Romans "Der Bastard von Istanbul" der Herabwürdigung des Türkentums angeklagt. Interview Lewis Gropp
Nachdem er — erfolglos — versucht hatte, Orhan Pamuk wegen angeblicher "Herabwürdigung des Türkentums" zu belangen, strengt der berüchtigte rechtsextreme Anwalt Kemal Kerinsciz nun eine Klage gegen Sie an. Inwieweit sind die liberalen Intellektuellen in der Türkei miteinander vernetzt, um sich dem Druck von nationalistischer Seite entgegenzustellen?
Elif Shafak: Leider gelingt es den liberalen Intellektuellen viel schlechter als den Ultranationalisten, ihre Kräfte zu bündeln. Die türkische Gesellschaft ist mit einem Kraftfeld vieler konkurrierender und kooperierender Kräfte zu vergleichen. Die liberalen Intellektuellen bilden darin zweifellos einen bedeutenden Faktor, doch wirksam zusammen arbeiten tun sie noch zu selten.
Im Gegensatz zum Staat und zu seiner Bürokratie bestehen die türkischen Medien und die Zivilgesellschaft aus vielen sich überlagernden Schichten und aus den verschiedensten Akteuren. Die Ultranationalisten repräsentieren nicht die Mehrheit der türkischen Gesellschaft. So klein ihre Zahl aber auch sein mag, schaffen sie es doch, sich wirkungsvoll Gehör zu verschaffen. Der Kampf um die Meinungshoheit hält weiter an.
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Beitritt der Türkei zur EU wollen, eine weitere Demokratisierung und eine offene Gesellschaft. Sie unterstützen das Reformprojekt und stellen den Status Quo in Frage.
Ihnen gegenüber positionieren sich jene, die an der Isolation des Landes festhalten wollen; sie stehen für Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und einen autoritären Staat. Und gerade weil sich zurzeit soviel in die entgegen gesetzte Richtung bewegt, fallen die Gegenreaktion und die Panik der konservativen Kräfte ja auch so hörbar aus.
Sie haben gesagt, dass die türkische Sprache zu einem regelrechten "Schlachtfeld" geworden sei. Erleben wir einen Kulturkampf? Und falls ja, welche Rolle spielt die islamistische Regierung hierbei?
Shafak: Die Kultur war der Zement des türkischen "nation-building". Nach den Anfängen in den 1920er Jahren stand die Homogenisierung, Türkisierung und Zentralisierung der Kultur ganz oben auf der kemalistischen Agenda. Die Reform-Elite wusste, dass sich der neue Staat nicht ohne eine neue Sprache und Kultur würde etablieren lassen. So wurden osmanische Wörter ebenso wie Begriffe aus dem Sufismus aus der Sprache entfernt.
Auf der anderen Seite aber beobachten wir sowohl bei der Regierung als auch bei den Konservativen das Bemühen, die osmanische Vergangenheit zu glorifizieren, auch auf Kosten kritischer Nachfragen.
Wir erleben einen Widerspruch: Die modernen Kemalisten sind zukunftsorientiert und schenken der Vergangenheit und historischen Kontinuitäten nur wenig Aufmerksamkeit. Die Konservativen hingegen machen — in ihrem Bestreben, alles von den Reformern abgewertete wieder ins Recht zu setzen — aus der Vergangenheit etwas Sakrosanktes, das nicht hinterfragt werden darf. Meiner Meinung nach greifen beide Ansätze viel zu kurz.
Ihre Romane schöpfen aus einem reichen literarischen Reservoir und Sie bedienen sich dabei absichtlich vieler osmanischer Begriffe. Würden Sie sagen, dass die Sprache der osmanischen Kultur pluralistischer und reicher war als das heutige Türkisch? Hat die kemalistische Revolution die sprachliche Vielfalt eingeebnet?
Shafak: Die osmanische Sprache und Kultur waren in der Tat vielfältiger, was auch für die Religion galt. Es war nun mal ein multi-ethnisches Reich, weit ausgedehnt und auch deshalb so facettenreich. Ich bin eine der ganz wenigen Autorinnen, die die Türkisierung unserer Sprache offen kritisieren. Neben neuen gebrauche ich eine ganze Reihe alter Wörter und auch Begriffe aus dem Sufismus. Darüber mokieren sich viele Leute aus der kemalistischen Elite.
Ich glaube, dass wir, was das Element des Kosmopolitischen angeht, nach und nach immer intoleranter und engstirniger wurden. In der Spätzeit des Osmanischen Reiches war es nicht unüblich, dass weibliche Autoren sowohl auf Türkisch wie auch auf Englisch oder Französisch schrieben. Das wurde als normal angesehen.
Heute werde ich immer stärker kritisiert, weil ich meine Romane auf Englisch schreibe. Viele sehen das als "Verrat", als ob ich damit meine Sprache und letztlich mein Land verraten würde.
"Der Bastard von Istanbul" ist der zweite Roman, den Sie auf Englisch geschrieben haben. Glauben Sie, dass die Attacken gegen Sie weniger hart ausgefallen wären, hätten Sie auch dieses Buch wie die früheren auf Türkisch geschrieben?
Shafak: Da spielen sicher noch mehr Faktoren eine Rolle. Wenn Sie sich dazu entschließen, auf Englisch zu schreiben, der "Sprache des Imperialismus", dann reagieren einige Leute tatsächlich noch reaktionärer als ohnehin schon. Diese fast reflexartige Engstirnigkeit ist dabei sowohl bei den Linken wie den Rechten zu beobachten.
Hinzufügen muss man aber auch, dass, auch wenn viele Menschen arge Probleme damit hatten, das Buch zu akzeptieren, die allgemeine Reaktion auf den Roman sehr positiv war. Er wurde zu einem Bestseller und ist bereits mehr als 50.000 Mal verkauft worden. Man diskutiert über das Buch und es wird viel und ohne Einschränkungen gelesen. Ich machte viele Lesungen, hatte Gespräche und Autogrammstunden, und das überall in der Türkei zwischen Izmir und Diyarbakir.
Das Feedback, das ich von ganz unterschiedlichen Menschen bekam, war meist sehr positiv, egal, ob es Linke waren, Kurden, Hausfrauen, Mystiker, Aleviten oder Kopftuch tragende Studentinnen.
Interessanterweise kamen die Hassbriefe, die ich bekam, meist von Türken, die im Ausland leben. Die Türken, die als Immigranten im Ausland leben, sind oft viel nationalistischer und konservativer als die Türken in der Türkei.
In Ihrem neuen Roman geht es um die Tragödie der Armenier. Gab es nach Ihrem Wissen schon einen anderen türkischen Roman, der sich explizit mit diesem Thema befasste?
Shafak: Hier und dort finden sich zwar Spuren, doch seit vielen Jahrzehnten wird dieses Thema in der türkischen Literatur praktisch totgeschwiegen.
Wie viel haben Sie für den Roman recherchiert?
Shafak: Ich schrieb das Buch, während ich in den USA lebte und lehrte. Abgesehen von meinen eigenen Recherchen sammelte ich auch die Zeugnisse von Augenzeugen, sah Dokumentationen und Interviews, sprach mit zahlreichen Armeniern in der Diaspora und besuchte sie bei ihnen zuhause, und hatte schließlich auch die Gelegenheit, Türken und Armenier in den USA zu beobachten.
Ich bin eine türkische Schriftstellerin, und wo immer ich hinreise, trage ich mein kulturelles Gepäck bei mir. Und doch ist mein Schreiben das einer Nomadin; ich will nationale und nationalistische Grenzen überwinden. Die Grenzen eines Nationalstaates sind zu eng für meine Vorstellungskraft.
Interview Lewis Gropp
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2006
Qantara.de
Elif Shafak:
Die Heilige des nahenden Irrsinns
Die preisgekrönte Autorin Elif Shafak zählt zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der Türkei. Dieses Jahr erschien ihr Roman "Die Heilige des nahenden Irrsinns", das erste Buch, das die in den USA lehrende Dozentin für Interkulturelle Studien auf Englisch verfasste.
Elif Shafak:
"Es gibt keinen Kampf der Kulturen"
In der Türkei gibt es einen "Kampf" zwischen zwei Strömungen: den religiös begründeten Konservativen und Nationalisten und zwischen den Kosmopoliten und Liberalen. Einen Kampf zwischen der EU und der Türkei hingegen gibt es nicht, meint die türkische Schriftstellerin Elif Shafak.
Anklage gegen Orhan Pamuk
Freie Meinungsäußerung unerwünscht
Die Staatsanwaltschaft des Istanbuler Stadtbezirks Sisli hat Klage gegen den türkischen Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Orhan Pamuk erhoben. Grund: "Öffentliche Herabsetzung des Türkentums". Näheres von Gabriela Schaaf
www
NZZ-Artikel zu Elif Shafak
Website von Elif Shafak (engl.)