"Der Niqab ist mein Schutzschild"
Es ist ein Dilemma. Nada möchte gerne, dass westliche Journalisten anders berichten. Dass sie aufhören, im Gesichtsschleier ein Symbol der Unterdrückung zu sehen. Dass sie den Frauen selbst zuhören. Doch ihre eigene Geschichte im Interview zu erzählen, das geht ihr zu weit. Nada möchte weder ihren richtigen Namen im Internet finden, noch akzeptiert sie eine Stimmaufnahme, geschweige denn Fotos. Der Welt da draußen vertraut sie nicht. Sie möchte nicht den Menschen gefallen, sondern nur Gott. Vor allem möchte sie sich nicht nach menschlichen Moden richten, sondern nach einem höheren Ziel streben. Was viele nicht-religiöse Europäer als religiösen Wahn abtun, ist für sie ein Ringen um richtiges Verhalten in allen Lebenslagen.
Mit 19 hat sie sich gegen den Willen ihrer Eltern für den Gesichtsschleier entschieden. Heute, elf Jahre später, sieht sie darin "die beste Entscheidung ihres Lebens". Die Details der Entscheidung behält sie für sich, nur soviel darf öffentlich zitiert werden: Dass sie sich unter dem Schleier entspannt und ruhig fühle. Sicherer und selbstbewusster. Und vor allem viel freier als vorher. Nadas Sätze kann man in vielen Varianten hören, in mancher Hinsicht sind sie typisch. Allerdings mit Vorbehalt. Denn so wenig es die typische Frau mit Kopftuch gibt, so wenig gibt es die typische Gesichtsschleier-Trägerin. Frauen, die öffentlich nur mit schwarzer Abaya und ebenso schwarzem Schleier auftreten, die scheinbar nur der Augenschlitz voneinander unterscheidet, steckt man schnell in eine Schublade – auch unter Muslimen, die zwar für eine differenzierte Betrachtung des Kopftuchs plädieren, aber in den meisten Fällen finden, dass der Niqab weit übers Ziel hinausschießt.
Schleier ohne Schublade
Indes: Es gibt keine Schublade, die für alle passt. Es gibt Frauen wie Nada, die im Gesichtsschleier ein Schutzschild sehen – und es gibt jene, die ihn in Kombination mit Gucci-Täschchen, Stöckelschuhen und knallbuntem Lidschatten dazu verwenden, das Klischee der verführerischen Orientalin zu zelebrieren.
Gleichzeitig macht es einen gewaltigen Unterschied, wo der Gesichtsschleier getragen wird: Frauen, die sich in Syrien oder Ägypten damit zeigen, sehen darin meist ein Zeichen besonderer Frömmigkeit und gehen über die in ihrem Land übliche Religionspraxis hinaus. Nada etwa ist Ägypterin, für ihre Familie war der Niqab ein Schock. Ganz anders ist es in vielen Golfstaaten, wo der Gesichtsschleier seit jeher zu den lokalen Gebräuchen gehört. "Es ist einfach unsere Tradition. Wir denken nicht viel darüber nach, wir reden nicht viel darüber, wir tragen es einfach," erklärt Nashwa Ibrahim, Mutter von fünf Kindern und Verwaltungsangestellte im katarischen Außenministerium.
Doch nicht nur viele katarische Frauen tragen in Doha Niqab, auch unter Konvertitinnen aus westlichen Ländern ist der Niqab weit verbreitet. Die zum Islam konvertierte Fitnesstrainerin Kathleen Toomey erzählt: "Hier in Katar ist es einfach bequem, das zu tragen. Es fühlt sich gut an." Ihre Freundin Aisha Stacey mag am Niqab "das Gefühl, an einem Ort sein zu können und doch irgendwie getrennt davon."
"Ich hasse es" In Gesprächen mit Niqabis fällt das Wort immer wieder: "Entscheidung". Doch wie unabhängig ist diese Entscheidung, wo hört der eigene Wille auf und wo beginnt sozialer Druck oder Zwang von Außen? "Natürlich kommt auch das vor", meint Aisha. "Aber es ist die gleiche Art von Druck, die es auch im Westen gibt – wenn ein Vater nicht will, dass seine Tochter dies oder jenes studiert, wenn ein Mann seine Frau zu etwas drängt, was sie nicht möchte. In den einheimischen Familien mag es oft eine soziale Konvention sein, aber die Frauen fühlen sich wohl damit. Und unter den Konvertitinnen ist es bei 90 Prozent eine eigene Entscheidung."
Der Prozentsatz freilich ist eine ganz subjektive Schätzung. Wenn man in Doha unter Niqab-Trägerinnen recherchiert und sich per Schneeballsystem von einer zur nächsten weiterfragt, mag sich der Eindruck bestätigen.
Doch es bestätigt sich auch, dass eine generelle Tendenz nichts aussagt über den Einzelfall. Nur eine halbe Stunde nach dem Gespräch mit Aisha erreicht mich eine E-Mail mit folgenden Worten: "Danke für Ihre Interview Anfrage. Ich trage den Niqab nur, weil mein Mann das will. Ich hasse es. Mit besten Grüßen."
Eifersucht als Liebesbeweis
Auch Nashwa Ibrahim hat einen Ehemann, der seine Frau in der Öffentlichkeit lieber mit Niqab sieht. Doch genau darauf legt sie Wert: Ein Mann, der seine Frau den Blicken anderer Männer aussetzt, meint Nashwa, respektiere seine Frau nicht genug. "Ich wäre sehr verletzt, wenn er nicht darauf bestehen würde, dass ich Niqab trage. Es kann ihm doch nicht egal sein, wer mein Gesicht sieht! Das Gesicht ist die Schönheit einer Frau, es zieht andere Männer an. Da muss er doch eifersüchtig sein!" Was Niqab-Trägerinnen über ihre individuellen Motive hinaus fast immer verbindet, ist die Überzeugung, dass Unterschiede zwischen Mann und Frau den Schleier nötig, oder zumindest wünschenswert machen. "Wenn die Europäer das leugnen, dann belügen sie sich selbst" meint Nashwa. Und Kathleen fügt hinzu: "Natürlich kann man sagen: Es sind die Männer, die sich ändern müssen, sie dürfen Frauen einfach nicht mehr anstarren und nicht mehr belästigen.
Doch Gott hat Männer so geschaffen, dass sie sich leicht von Frauen angezogen fühlen. Das wird sich nicht ändern, nur weil manche Frauen sagen, das passt ihnen nicht. Die Kleiderordnung im Islam ist ein Umgehen mit der Wirklichkeit – die Männer müssen ihren Teil tun, aber wir Frauen können ihnen helfen, indem wir uns bedecken." Je mehr Frauen in Katar arbeiten, so scheint es, desto mehr tragen auch den Gesichtsschleier. Noch in den 1990er Jahren galt es als unerhört, in einem gemischtgeschlechtlichen Umfeld zu arbeiten. Heute ist es normal, doch der Umgang damit noch nicht. Der Niqab ist eines der Hilfsmittel, zu dem katarische Frauen greifen, um sich in der Arbeit wohl zu fühlen und männlichen Kollegen locker und selbstbewußt begegnen zu können.
Anonymität im Alltag
Spezifisch religiöse Gründe rücken so in der Hintergrund: Keine der Frauen hält den Niqab für eine islamische Pflicht.
Nada und Nashwa glauben zwar, dass es "besser" ist, sich "so gut zu bedecken wie es geht", doch letztlich sind es immer die ganz praktischen Gründe von denen sie erzählen. "Wenn ich mit meinem Mann in der Shopping-Mall bin und wir laufen seinen Freunden über den Weg... es wäre mir sehr unangenehm, wenn sie mich sehen würden."
Oder: "In Doha kennt jeder jeden, ich will nicht, dass alle mich erkennen, dass jeder weiß, wo ich gestern war." Der Niqab symbolisiert ein Stück Privatheit in einer Gegend, die alles andere als anonym ist. Weil viele arabische Metropolen in etwa so funktionieren wie in Deutschland allenfalls ein 1000-Seelen-Dorf, weil so viel beobachtet, bewertet und weitergetratscht wird, ist der Raum unterm Gesichtsschleier für viele ein Zufluchtsort. Und damit paradoxerweise ein Freiraum.
Wie ein Bikini in der Fußgängerzone
Wie aber fühlt es sich in westlichen Ländern an, wo die Linie zwischen privat und öffentlich anders verläuft? Kathleen und Aisha tragen außerhalb der islamischen Welt nur Kopftuch, keinen Niqab. Irgendwie scheint er anderswo nicht zu passen.
Nashwa wiederum fliegt regelmäßig zum Shoppen nach Paris, London und München. "Ich trage dann die schwarze Abaya und ein Kopftuch. Ich weiß, dass die Europäer das schwarz nicht mögen, aber ich will keine andere Farbe." Was ist mit den Blicken der Männer? "In Europa kennt uns keiner. Und... wie soll ich sagen? ... Die Männer dort sind anders als die Männer hier. Ich habe das Gefühl, die sehen mich gar nicht." Nur für eine kommt es nicht in Frage, den Gesichtschleier gegen ein gewöhnliches Kopftuch einzutauschen – auch nicht in Europa. Nada sagt, sie fühle sich ohne Schleier draußen unsicher und irgendwie schutzlos. Ungefähr so, wie eine deutsche Frau im Bikini in der Fußgängerzone. "Ich würde gerne nach Deutschland kommen. Ich möchte die Menschen kennenlernen und ihnen erklären, warum ich das trage. Aber ich habe Angst, dass sie mich nicht mögen werden. Dass sie nur den Niqab sehen, nicht mich."
Stephanie Doetzer
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de