Lieder über einen perfekten Libanon, den es nie gab
Trotz des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah ließen es sich die Libanes*innen im November dieses Jahres nicht nehmen, den 90. Geburtstag der berühmtesten libanesischen Sängerin aller Zeiten zu feiern. 70 Jahre ist es her, dass sich die aufstrebende junge Sängerin Nahad Haddad den Namen Fairuz gab.
Was weniger bekannt ist: Viele Lieder, die ihre Fans rauf und runter hören, stammen aus Singspielen, die sie gemeinsam mit den Rahbani-Brüdern in den 1960er und 1970er Jahren aufgeführt hat. Fünf Jahre arbeitete sie mit Assi und seinem Bruder, dem Polizeibeamten Mansour Rahbani zusammen, bis sie ersteren heiratete. Assi kündigte seinen Job bei der Stadtverwaltung, um nur noch für die junge Fairuz zu komponieren.
Die 1950er Jahre waren von dem Traum geprägt, die arabischen Staaten nach Ende der europäischen Kolonialisierung neu zu gestalten. Ein Land nach dem anderen errang die Unabhängigkeit und unternahm erste Schritte in die neue Ära. Die Araber*innen wollten beweisen, dass sie den Kolonialmächten in nichts nachstanden.
In dieser Zeit gingen die drei Musiker*innen, Fairuz, Assi und Mansour, ans musikalische Theater in Baalbek, wo zuvor ausschließlich westliche Stücke aufgeführt wurden. Zum Auftakt ihrer künstlerischen Karriere wurde die Veranstaltungsreihe „Libanesische Nächte“, in der sie Lieder und Reime vorführten, die Teil des kulturellen Erbe des Libanons sind. Sie präsentierten außerdem eines der ersten Lieder, das je über das Land geschrieben wurde: „Libanon, du grünes Land, du schönes Land“.
Die Suche nach einem grünen und schönen Libanon
Die Realität im Libanon ließ sich jedoch nicht wirklich als grün und schön bezeichnen. Das Land befand sich mitten in einem der ersten von mehreren Konflikten, die die traurige Geschichte des Libanon gezeichnet haben: Im Jahr 1958, unmittelbar nachdem Ägypten und Syrien einen gemeinsamen Staat ausgerufen hatten, forderte der libanesische Ministerpräsident Raschid Karami, ein Sunnit, dass der Libanon ebenfalls Teil dieses Staates werde. Der christliche Präsident Camille Chamoun lehnte dies ab. Der Konflikt eskalierte rasch und es kam zu innerlibanesischen Machtkämpfen.
Chamoun forderte den damaligen US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower auf, einzugreifen. Die USA sendeten daraufhin 14.000 Marinetruppen nach Beirut, um Chamoun gegen seinen Konkurrenten zu unterstützen. Innerhalb von drei Monaten wurden ungefähr 2.000 Menschen auf beiden Seiten getötet. Die Krise endete mit Chamouns Rücktritt. Sein Amt übernahm der Oberbefehlshaber des Militärs, Fuad Schihab.
Inmitten dieser Gefechte schrieben die Rahbani-Brüder ihr erstes Singspiel, „Die Mondbrücke“. Das Stück spielt in zwei benachbarten, fiktiven Dörfern. Die Dörfer waren zuerst befreundet, doch etwas Düsteres hatte sich zwischen ihnen zugetragen und die Liebe wurde zu einer tiefen Feindschaft. Das eine Dorf entschied, dem anderen das Wasser abzustellen, um dessen Ernte zu zerstören und die Bevölkerung dursten zu lassen. Um dieses abgestellte Wasser dreht sich der Konflikt.
Doch dann tritt eine junge Frau mit magischen Kräften auf den Plan. Sie verspricht beiden Dörfern, dass unter der Mondbrücke, die die Dörfer miteinander verbindet, ein Schatz zu finden sei, sobald sich die Dörfer versöhnten. Nach der Versöhnung verkündet die Hexe, der Schatz seien Frieden und Liebe. Fairuz singt auf der Bühne: „Zufriedenheit ist schöner als Traurigkeit, der Frieden ist der Schatz aller Schätze.“ Bei einer Version auf YouTube ist der laute Applaus des Publikums zu hören, als Fairuz die Stelle „der Frieden ist der Schatz aller Schätze“ singt.
„Die Mondbrücke“ war das erste Singspiel der Rahbani-Brüder und erfreute sich aufgrund des historischen Kontexts großer Beliebtheit. Die drei Künstler*innen entschieden sich, alle ihre Arbeiten in diesem Stil aufzuführen und dabei den Schmerz, die Ängste, Hoffnungen und Ambitionen der libanesischen und arabischen Gesellschaft aufzugreifen. Die Handlung spielt meistens an einem fiktiven Ort, in einer einfachen, guten und friedlichen Welt, die mit Herausforderungen konfrontiert wird. Die Namen der Protagonist*innen und Orte sind häufig Wortspiele oder Metaphern und rahmen so die Stücke. Der Geist dieses ersten Projektes findet sich in allen Werken von Fairuz und den Rahbanis wieder.
Where are the new Arab icons?
As the photo of Fairouz talking to French President Emmanuel Macron spread around the world, many asked if Arabs today had any contemporary stars of Fairouz's standing. In this essay for Qantara.de, Khaled Al-Khamissi answers this question and asks whether there is a place for up-and-coming stars in a world that is so hostile to creativity and originality
Herrschaftskritik als Singspiel
Nach der Niederlage von 1967 und dem Sieg Israels über gleich drei arabische Staaten in nur sechs Tagen schrieben die Rahbani-Brüder „Die Sawwan-Berge“. In dem Stück geht es um eine Stadt, die von „Fatek al-Mutasallet“ (wörtl.: der mörderisch Machtgierige) überfallen wird. Al-Mutasallet nimmt die Sawwan-Berge ein und tötet den dortigen Herrscher al-Mudallaj. Jahre später kehrt dessen Tochter Ghurba aus dem Exil zurück (al-ghurba heißt auch wörtl. Exil, Anm. d. Red.). Sie initiiert Bauprojekte, und leitet Gesang und Feiern zur Erntesaison an – um al-Mutasallet zu bekämpfen. Fatek al-Mutasallet bemerkt, dass die Trauer, die er über die Einwohner*innen gebracht hatte, sie wieder verlässt und das Leben, das er ihnen genommen hatte, zurückkehrt. Er erkennt, dass er nicht in der Lage sein wird, ein Volk zu regieren, das sich nicht unterkriegen lässt.
Mit den Jahren wurde sichtbar, dass die Rahbanis nicht nur ein konkretes Problem mit Fatek, dem Machtgierigen, hatten, sondern, dass sie allgemein Kritik übten an den Herrschern. Die zwei Brüder schrieben und Fairuz sang Singspiele wie „Hast du gut geschlafen?“ Es handelt von einem König, der die meiste Zeit schläft und nur einen Tag im Monat wach ist. An diesem Tag widmet er sich jeweils nur drei der vielen Anliegen seines Volkes.
Die junge Frau Qaranful wünscht sich, dass der König ihr mit seinem Siegel genehmigt, ein Dach auf ihr Haus zu bauen, das sie vor Regen schützen soll. Da der König schläft, stiehlt Qaranful sein Siegel, um ihren eigenen Antrag und den aller anderen Untertanen zu genehmigen. Am Ende des Stückes heißt es: „Wenn unsere Hoffnung in die Herrscher enttäuscht wird, müssen wir, das Volk, sie aufhalten.“ Der Chor singt anschließend: „Wacht auf, unser Herr… Der Mond ist voll und Ihr habt einen Monat geschlafen. Ihr esst und trinkt und schlaft und das alles zum Wohle des Volkes, unser Herr?“
Das Ende des Traums, der nie in Erfüllung ging
Im Jahre 1977 tobte der libanesische Bürgerkrieg, viele mächtige Staaten mischten sich in das Geschehen in dem kleinen Land ein. Zu der Zeit schrieben die Rahbanis das Theaterstück „Petra“, über ein kleines arabisches Land, das sich gegen das grausame Reich „Roma“ wehrt. Die Königin Schkila, gespielt von Fairuz, ist gezwungen, ihre junge Tochter für das gleichnamige Land zu opfern.
Fairuz singt, und es klingt, als würde sie über den Libanon singen: „Sie sagen, mein Land ist klein… Mein Land ist umzäunt von Wut… Und sie sagen, wir sind nur wenige. Auch wenn wir nur wenige sind unser Land ist gut und schön…O Fels der Morgenröte und Palast des Taus, mein Land…Du bist klein, aber in Wahrheit groß und lässt dich nicht einnehmen, mein Land.“
1979 trennt sich Fairuz nach 22 Jahren Ehe von Assi Rahbani und das Projekt, das in zwei Jahrzehnten 500 Lieder und 24 Theaterstücke hervorgebracht hatte, zerbrach. Rahbanis Zeit in ihrem Leben endete und damit eine zentrale Epoche auf ihrem Lebensweg. Sie war in dieser Zeit nicht nur die wichtigste Sängerin in der Geschichte des Libanons geworden, sondern hatte auch das Bild eines utopischen Ideals vom Libanons und seinem Volk geschaffen – sei es anhand einer jungen Hexe, die die Konflikte in ihrem Land beilegt, einer jungen Frau, die aus dem Exil zurückkommt, um al-Mutasallet zu bekämpfen, oder einer Frau, die gegen einen unrechten Herrscher Widerstand leistet, in dem sie sein Siegel stiehlt.
Nach der Trennung von Fairuz und Assi Rahbani suchte Assi einen Ersatz und fand die Sängerin Ronza. Er stellte sie in den Stücken „Der siebte Frühling“ und „Eine andauernde Verschwörung“ vor. Bei dem Publikum kam Rahbani ohne Fairuz jedoch nicht gut an. Er starb 1986. Fairuz arbeitete ebenfalls mit anderen libanesischen Komponisten zusammen, darunter Philemon Wehbe, Zaki Nassif oder Muhammad Muhsen. Bis heutet arbeitet sie mit ihrem Sohn, dem Komponisten Ziad al-Rahbani, zusammen.
Im Libanon dauerte der Bürgerkrieg auch nach „Petra“ noch drei Jahrzehnte an. Als er schließlich endete, folgte ein Teufelskreis aus politischer Gewalt, Anschlägen und den Versuchen, das syrische Militär, das den Libanon seit Ende des Bürgerkrieges besetzte, loszuwerden.
2005 wurde der Ministerpräsident Rafik al-Hariri bei einem Anschlag am helllichten Tage getötet und der Untersuchungsausschuss schaffte es nicht, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. 2006 begann ein neuer Krieg zwischen Libanon und Israel, gefolgt von einer weiteren politischen Krise, in der die Konfliktparteien zu den Waffen griffen. Später, im Jahr 2019, erlebte das Land einen Aufstand der jungen Generation, die Reformen der sich stetig verschlechternden Wirtschaft forderten. Der Aufstand wurde von der Hisbollah unterdrückt. Das Land scheiterte außerdem immer wieder daran, einen neuen Präsidenten zu wählen.
Auch dieses Jahr gab es im Libanon einen neuen Krieg zwischen Hisbollah und Israel. Viele Libanes*innen haben das Gefühl, keinen einzigen Tag in Stabilität zu leben. Sie haben das Gefühl, in einem Land zu leben, dass zum Leiden verdammt ist. Allein in den Liedern von Fairuz und Rahbani gibt es den perfekten Libanon.
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzt aus dem Arabischen von Alicia Kleer.
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