Die „Perle des Südens“ bleibt unfrei

Ein Mann in sahrauischer Kleidung mit Kopftuch reitet in Kamel. Im Hintergrund Werbung der UNESCO auf einer Düne.
Das Moussem-Festival feiert sahrauische Tradition – aber nur als Teil der marokkanischen Kultur. (Foto: Picture Alliance / AP | A. Bounhar)

Marokko zelebriert heute die sahrauische Kultur im Staats-TV und auf Festivals – was nicht immer so war. Dennoch bleibt Selbstbestimmung für die Westsahara unerreichbar. Durch Großprojekte baut der Zentralstaat seinen Einfluss immer weiter aus.

By Bettina Gräf

Weltweit fordern Aktivist:innen derzeit neue Aufmerksamkeit für einen bis heute andauernden Kolonialkonflikt: den um die Westsahara. In diesen Tagen jährt sich der Rückzug Spaniens aus seiner ehemaligen Überseeprovinz Sahara Español (Spanisch-Sahara) zum fünfzigsten Mal. 

Auf den Rückzug folgten die militärische Besetzung des Gebiets durch Marokko und die Vertreibung eines Großteils der Sahrauis nach Algerien in Flüchtlingslager, die bis heute bestehen. 

Seit dem Rückzug Spaniens 1975 gilt die Westsahara laut UNO als „nicht selbstverwaltetes Gebiet“. Marokko, das selbst erst 1956 seine Unabhängigkeit gegenüber Frankreich erreicht hatte, besetzt dieses Gebiet seither illegal und stellt sich damit über geltendes internationales und europäisches Recht. 

Damals wie heute nutzt das Königreich Marokko alle ihm zur Verfügung stehenden medialen und kulturellen Kanäle, um die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko zu festigen und von der Besatzung abzulenken. Im Laufe der Zeit hat sich die marokkanische Strategie zur Legitimierung der Besatzung jedoch gewandelt. 

Dies zeigt sich besonders gut an der Besatzungskulturpolitik des Landes. Sie fällt in die Regierungsperioden von zwei marokkanischen Königen, Hassan II. (1961-1999) und Mohammed VI. (seit 1999), und trägt damit zwei unterschiedliche Gesichter.

„Bleierne Zeit“ unter König Hassan II.

Einig waren sich Vater und Sohn darin, dass die Westsahara historisch schon immer zu Marokko gehört habe. Diese Argumentation suggeriert Zugehörigkeit und eine daraus abgeleitete legitime marokkanische Herrschaft über das Gebiet. 

Ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom 16. Oktober 1975 widersprach jedoch dieser Auffassung und bestätigte das Recht des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung. 

Dabei ging Hassan II. in den ersten Jahrzehnten der Besatzung durchaus anders vor als Mohammed VI. ab den 2000er Jahren. Bei dem sogenannten „Grünen Marsch“ am 6. November 1975 folgten etwa 350.000 marokkanische Zivilist:innen und Tausende von Soldaten einem Aufruf des Königs und überschritten die Grenze in Richtung der von den Spaniern ausgebauten Stadt El Aaiún (franz.: Laayoune).

Eine Frau in sahrauischem Gewand überquert eine Straße.
Heute tragen Sahrauis in Dakhla wieder traditionelle Kleidung: Milhfa für Frauen und Dara‘a für Männer. (Foto: Picture Alliance / AP | M. Elshamy)

Hassan II. verknüpfte die Frage der Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko eng mit seiner Legitimität als König und der nationalen Einheit Marokkos. Entsprechend brutal ging er gegen Leute vor, die diese in Frage stellten. Unter seiner Herrschaft gehörte die sahrauische nomadische Kultur, ähnlich wie die der Amazigh, nicht zur marokkanischen Identität. 

„Hassan II. verfolgte einen Ansatz, der auf harten Maßnahmen basierte, das heißt auf kultureller Unterdrückung und Gewaltanwendung. Zum Beispiel wurden Sahrauis gezwungen, marokkanische Namen und Titel zu tragen, durften ihre Kleidung wie die Milhfa und den Dara‘a nicht tragen und ihre Sprache Hassaniyya nicht sprechen“, so der Historiker Dr. Abderrahmane Taleb Omar Ahmed Baba von der Universität Navarra im Gespräch mit Qantara.

Heute feiert Marokko seine „kulturelle Vielfalt“

Dies änderte sich mit dem Machtwechsel 1999, der auch die allgemeine Repression und die sogenannte „bleierne Zeit“ beendete. Mohammed VI. verfolgt eine Politik der „Marokkanisierung“, die nicht mehr durch Verbote und Unterdrückung der sahrauischen Kultur wirken soll, sondern durch deren Integration in die neu proklamierte kulturelle Vielfalt Marokkos. 

Verantwortlich ist dafür die 2002 gegründete Agentur des Südens (Agence du Sud) in Rabat. Auf wirtschaftlicher Ebene werben regionale Investitionszentren in Dakhla und Laayoune mithilfe aufwendiger Videos um Investitionen für den Tourismus, die Landwirtschaft, Schifffahrt und für erneuerbare Energien in der Westsahara.

Durch die marokkanische Verfassungsreform 2011 wurde die Anerkennung der Vielfalt durch die Monarchie auch rechtlich verankert. Schon 2004 gründete der marokkanische Staat im Zuge der kultur- und medienpolitischen Kehrtwende den Fernsehsender TV Laayoune – ausgerechnet am 6. November, dem Jahrestag des „Grünen Marsches“, den Sahrauis als „Schwarzen Marsch“ bezeichnen. 

In diesem staatlichen Sender werden die Nachrichten auf Hassaniyya verlesen, mit dem Ziel, sahrauische Kultur zu repräsentieren. Stimmen für Unabhängigkeit oder Kritik gegenüber der Inhaftierung sahrauischer Aktivist:innen kommen hier entsprechend den staatlich-marokkanischen Interessen hingegen nicht vor.

Ein anderes Beispiel ist das Moussem-Festival von Tan Tan im Süden Marokkos. Die Region gehörte bis zur Unabhängigkeit Marokkos zu Spanien und war lange Zeit vor allem von Sahrauis besiedelt. Traditionell war es ein Fest zu Ehren eines Heiligen und Treffpunkt nomadischer Stämme aus der gesamten Sahara. 

2004 reaktivierte das marokkanische Königshaus den alten Brauch. Die UNESCO erklärte das Festival im Jahr 2005 zum Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Kulturerbes Marokkos, ohne Rücksicht auf die schwierigen politischen Umstände. 

„Das Fest in Tan Tan steht im Dienst der Kulturpolitik der marokkanischen Zentralregierung, um die Besatzung in der Westsahara zu legitimieren. Es diente zu keinem Zeitpunkt der Unterstützung der dort ansässigen Sahrauis oder ihrer tatsächlichen Kultur“, betont der Journalist Mohammed Radi Ellili, der zwischen 2001 und 2013 beim staatlichen TV-Kanal Al Aoula tätig war. 

Im Gespräch mit Qantara erklärt er, das Festival diene auch der Legitimierung der Besatzung gegenüber befreundeten Staaten, so hatten die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) beispielsweise einen eigenen Pavillon auf dem Festival. 

Urlaub in besetzten Gebieten

Ein wichtiger Aspekt marokkanischer Besatzungskulturpolitik ist der Tourismus. Die Lagune von Dakhla wird vom nationalen Tourismusbüro mehrsprachig und mit Hochglanzbildern beworben. Es winken verführerische Strände, ideal zum Kitesurfen, und eine Wüste im Abendrot. Auf der englischen Website wird Marokko zum „Königreich des Lichts“ und Dakhla zur „Perle des marokkanischen Südens“.

Die Infrastruktur in der besetzten Westsahara soll in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden. Geht es nach dem König und einflussreichen Partnerstaaten wie den USA, Frankreich, Spanien, Großbritannien und den VAE, wird sich die Region in den nächsten Jahren stark verändern.

Ganz oben auf der Website des nationalen Tourismusbüros erscheint der Slogan „Marokko, Königreich des Fußballs“. In diesem Winter wird in Marokko der Africa-Cup ausgetragen, im Sommer 2030 trägt dort die FIFA Teile der Fußballweltmeisterschaft aus. 

Die eigentlich fußballbegeisterte Jugend Marokkos geht im Moment unter dem Namen Gen Z 212 auf die Straße – unter anderem gegen die Investitionen in Sport-Großveranstaltungen. Ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich seit Jahren und die Bevölkerung geht nicht davon aus, dass die WM ihnen zugutekommen wird. Auch in der besetzten Westsahara ist ein neues Stadion geplant.

Das Völkerrecht verblasst

Neben der Kulturpolitik im Sinne der Besatzung ging Marokko 2007 auch außenpolitisch in die Charmeoffensive. So legte die marokkanische Regierung den Vereinten Nationen am 11. April 2007 einen Plan vor, der auf wenigen Seiten eine Autonomie der Sahara-Region unter Marokkos Souveränität darlegt. 

In diesem Plan ist kein Unabhängigkeitsreferendum über einen sahrauischen Staat vorgesehen. Ein solches war 2004 ein zentraler Teil des vom damaligen UN-Sonderbeauftragten für die Westsahara, James Baker, vorgelegten Plans. Marokko hatte diesen kategorisch abgelehnt. 

2020 erkannten die USA die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko offiziell an, Frankreich folgte 2024. Seither sprechen sich beide Staaten sowie Spanien und zuletzt auch Großbritannien für den von Marokko vorgeschlagenen Autonomieplan aus. 

Die Staaten stören sich offenbar weder daran, dass der Vorschlag das Völkerrecht verletzt, noch an der undemokratischen Regierungsführung in Marokko. Demokratische Strukturen sind jedoch eine Voraussetzung dafür, dass die politische und kulturelle Autonomie der Sahrauis unter marokkanischer Regierungsführung eine realistische Chance bekommt.

Die Anerkennung des Plans durch Staaten Westeuropas und die USA sowie durch einige afrikanische Staaten schadet den Sahrauis. Sie kämpfen seit 50 Jahren für ihre Unabhängigkeit und ebenso für das Ansehen des Völkerrechts.

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