Endstation Senegal

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Viele junge Senegalesen wollen nach Europa, um Arbeitslosigkeit und Armut zu entfliehen. Der senegalesische Soziologe Amsata Sene spricht über die Ursachen und Folgen der klandestinen Migration aus Afrika.

Interview by Naima El Moussaoui
Amsata Sene; Foto: Naima El Moussaoui
Amsata Sene: "Das Phänomen der klandestinen Migration resultiert aus dem politischen Scheitern der afrikanischen Regierungen" Foto: Naima El Moussaoui

​​Herr Sene, ich habe hier in Dakar nur einen einzigen jungen Senegalesen getroffen, der mir gesagt hat: "Ich will im Senegal bleiben." Wer die Chance hat, verlässt das Land. Wie lässt sich die Situation der senegalesischen Jugend beschreiben?

Amsata Sene: Stellen Sie sich, Sie verbringen den ganzen Tag damit, zu schlafen oder Tee zu trinken. Stellen Sie sich vor, Sie sind vollkommen verzweifelt und ohne jegliche Zukunftsperspektive. Stellen Sie sich vor, Sie haben keinerlei finanzielle Mittel, um die elementarsten Bedürfnisse im Leben zu stillen... Diese jungen Menschen haben nichts mehr vom Leben zu erwarten. Sie sind in einer Situation, die sich als "soziale Marginalisierung" beschreiben lässt. Sie können weder ihre Bedürfnisse, noch die ihrer Eltern befriedigen.

Derjenige, der sagt: "Ich bleibe im Senegal", ist derjenige, dem es gelungen ist, seine Lebensbedürfnisse hierzulande zu befriedigen. Doch wir sind noch weit davon entfernt, dass dies auf die Mehrheitsbevölkerung im Senegal oder in Afrika zutrifft. Leider haben wir bis heute noch keine ernsthafte und vertrauenswürdige Politik erlebt, der es gelungen ist, die senegalesische Bevölkerung aus dieser Misere zu herauszuholen. Daher kann man gewissermaßen sagen, dass das Phänomen der klandestinen Migration aus dem politischen Scheitern der afrikanischen Regierungen resultiert.

Viele der jungen Senegalesen, die mit ihren klapprigen Booten, den "Pirogen", auf den Kanarischen Inseln ankommen, und wieder heimgeschickt – oder wie es offiziell heißt "rückgeführt" – werden, geben der senegalesischen Regierung die Schuld für ihre Rückkehr, und nicht den spanischen Behörden. Sie haben viele dieser "Rückgeführten" befragt. Warum ist das so?

Sene: Seltsamerweise denken sie alle genauso. Es gibt eine Erklärung dafür: Alle diese jungen Menschen sagen dies, weil die Spanier ihnen erzählen: "Wir hätten gern, dass Ihr bei uns bleibt, aber Eure Regierung ist damit nicht einverstanden. Wir können da nichts tun."

Wie erklären Sie sich, dass die Senegalesen dies glauben?

Senegalesischer Flüchtling nach seiner Rückkehr am Strand bei Dakar; Foto: picture alliance/dpa
Illusion vom schnellen Geld und wirtschaftlichen Erfolg in Europa: Jedes Jahr riskieren Tausende Afrikaner die Überfahrt nach Europa und müssen damit rechnen, umgehend wieder in ihre Heimat abgeschoben zu werden; Foto: picture alliance/dpa

Sene: Wenn wir versuchen, die Umstände ihrer Rückkehr zu analysieren, lässt sich Folgendes sagen: Beispielsweise werden sie mitten in der Nacht geweckt und man sagt ihnen: "Packt Eure Sachen!" Oft gibt man jeden von ihnen ein Formular. Viele unter den Senegalesen können aber nicht gut lesen, sie erkennen nur einzelne Wörter. Wie mir Jugendliche erzählten stehen auf diesen Papieren ganz oben Namen spanischer Städte wie Barcelona.

Man sagt ihnen: "Ihr brecht jetzt auf", ohne ihnen genau mitzuteilen, wohin die Reise geht. Die Senegalesen sagen sich in dieser Situation: "Wir gehen nach Europa." Aus diesem Grund steigen sie widerstandslos in den Bus, nachdem sie bereitwillig ihre Sachen zusammengepackt haben. Dann kommen sie am Flughafen an und plötzlich sind sie von Polizisten umzingelt. Man nimmt sie fest, führt sie in Handschellen ab und schickt sie mit dem nächsten Flugzeug zurück in den Senegal.

Diese Jugendlichen sagen einem dann nach diesen Erfahrungen, dass sie nicht aus dem Flüchtlingscamp fliehen wollten, weil sie vollkommen sicher waren. Sie erzählen, dass sie frei waren, nicht in Polizeigewahrsam und vor allem mit Ausreiseformularen für Spanien. Sie sagen: "Uns war klar, dass wir bleiben dürfen – schon allein deshalb, weil man uns hier so gut behandelte." All dies zeigt gleichermaßen die große Naivität diese jungen Migranten.

Flüchtlingsschiff mit afrikanischen Immigranten in Spanien; Foto: picture alliance/dpa
Flucht der Verzweifelten: Rund 5.000 afrikanische Bootsflüchtlinge kamen im vergangenen Jahr allein an den Küsten Spaniens an; Foto: picture alliance/dpa

​​Welches Bild von Europa haben diese jungen Menschen?

Sene: Das Bild der jüngeren Generation von Europa ist etwas zwiespältig. Obwohl sie das Leben in Europa mit einem gewissen Argwohn betrachten, zweifeln sie nicht daran, dass es sich auszahlt. Sie sind sich sicher, dass sie dort genau das erreichen und verdienen können, was ihnen bei einem Verbleib im Senegal nie möglich wäre. Der Indikator für die Stärke ihrer Motivation ist der Bruder, der Freund oder der Nachbar, der aus Europa in den Senegal zurückkehrt.

In diesem Sinne können Sie den Jugendlichen den ganzen, langen Tag erklären, dass auch das Leben in Europa hart ist … Wenn dieser junge Mensch einen Freund oder einen Nachbar aus dem Viertel und im gleichen Alter hat, der aus Europa kommt und während seines Urlaubs im Senegal ein Haus baut, ein Auto fährt, eine Frau heiratet, seiner Familie Geld gibt, dann macht es keinen Sinn weiterzusprechen. Dieser junge Mensch ist nicht mehr von seiner Idee abzubringen, das Land zu verlassen. Denn er sieht den Beweis des Erfolgs vor seinen Augen.

Das bedeutet, dass die illegale Migration vorrangig aus der Motivation heraus geschieht, in Europa Arbeit zu finden, sich etwas aufzubauen und der Familie Geld zu schicken.

Sene: Viele dieser Migranten haben keine berufliche Ausbildung. Ihre Absichten sind offensichtlich. Wenn man sie fragt: "Was möchtest du in Europa machen?", antworten sie, dass sie dorthin wollen, um zu arbeiten. Dort angekommen nehmen sie jede Arbeit an, die sie kriegen können. Was sie an Europa interessiert, ist das Geld. Es ist weder die Kultur, noch die Landschaft, noch irgendetwas anderes. Es gibt keinen einzigen unter ihnen, der von den Menschen in Europa spricht. Es ist so, als gäbe es dort keine Menschen.

Interview und Übersetzung aus dem Französischen: Naima El Moussaoui

© Qantara.de 2010