Von der Provinzrealität zu Problemen des Individuums
Auch schon vor der Verleihung des Literaturnobelpreises an Orhan Pamuk hatte die in Deutschland wenig beachtete türkische Literatur einen bedeutenden Schritt hin zur Modernisierung getan. Der türkische Autor Feridun Andaç mit einem Überblick
Die 1970er Jahre kündigten eine Wende in der türkischen Literatur an: Die Sozialisierung und die Dorfgeschichten sowie die Erkundung der Existenz des Individuums, die in den 40er bis 50er Jahren in Romanen und Erzählungen thematisiert wurden, wichen nun der Popularisierung, Verstädterung und individueller Identität; in den Vordergrund trat der politische Diskurs.
Mehr noch, der Autor als Institution machte sich in der Prosa als Faktor bemerkbar. Daran hatten Repression und Stagnation, bedingt durch das Provisorium zweier Interimsregimes, ebenso ihren Anteil wie die Suche nach dem Ich.
Suche nach neuer Sprache und Form
Gegen Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre fand der Roman zu sich selbst. Die Autoren Vedat Türkali und Pinar Kür leiteten eine neue Entwicklung ein, im zeitgenössischen türkischen Roman wurden neue Themen behandelt. Während der offen politische Diskurs die Realität des Landes abbildete, schlug sich das Ergründen der individuellen Identität nachhaltig in der Literatur nieder.
Auch die Atmosphäre gesellschaftlicher Opposition der 70er Jahre spiegelte sich in der Literatur wider: in der Vergangenheit viel diskutiert und von einiger Bedeutung, befreite sie sich von ihren Stereotypen und suchte nach einer neuen Form und neuen Sprache für die Abbildung der Realität von Mensch und Gesellschaft. Dies war in den Werken repräsentativer Autoren dieser neuen Tendenz zu beobachten.
Während der 1923 in Südanatolien geborene Yasar Kemal, der in der Literatur der 50er Jahre in Erscheinung getreten war, mit seiner Trilogie "Kimsecik" (Little Nobody) dem Roman einen erheblichen Entwicklungsschritt bescherte, befand sich auch ein Großteil der Erzähler der so genannten "Generation 1950" in einer fruchtbaren Schaffensperiode, die die Prosa bereicherte.
Pioniere des "neuen Romans"
Eine ungeheure Themenvielfalt war ein besonderes Merkmal der Prosaliteratur jener Zeit - mit einer Verschiebung der Thematiken vom Land zur Stadt, von der Provinzrealität zu den Problemen des Individuums, vom Hinterfragen weiblicher Existenz zur Abbildung historischer Tatsachen, von der Binnenmigration zur Emigration.
Aus dieser Fülle heraus konnten sogar aus der literarischen Stagnation, ausgelöst durch die Phase der "Interimsregierung" in den 80ern, neue Wege entwickelt werden.
Das Auftreten prägender Schriftsteller von den 80er Jahren bis ins 21. Jahrhundert hinein und die Begründung einer modernen türkischen Literatur lassen sich mit der Öffnung für äußere Einflüsse in Literatur und Kultur erklären, wie sie sich seit den 1960er Jahren entwickelt hatten. Für den Roman sind vier herausragende Namen zu nennen: Orhan Pamuk, Mehmet Eroglu, Ahmet Altan, Latife Tekin.
Diese Autoren, die unterschiedliche Motive im Roman verarbeiteten - von der historischen und sozialen Struktur der Türkei bis hin zum Problem individuellen Daseins, von der ausweglosen menschlichen Situationen in Zeiten des Wandels bis hin zum chronistischen Intellektuellenbewusstsein - kann man als Pioniere des "neuen Romans" bezeichnen.
Eine Darstellung anderer Art findet sich in den achtziger Jahren bei jenen Schriftstellerinnen, die die "Frauenfrage", die Ergründung weiblicher Existenz thematisieren. Inci Aral und Erendiz Atasü beleuchten in ihren Werken Probleme, die sich um die Achse der Geschlechterbeziehungen drehen. Beachtenswerter noch als das Erwachen ihres Bewusstseins war ihre Feststellung der Existenz dieser Problematik.
In der gleichen Phase sorgten auch Autoren wie die in Deutschland bekannten Murathan Mungan, Hasan Ali Toptas, Ahmet Ümit oder Elif Safak mit Romanen und Erzählungen für Aufsehen.
Das Verständnis von Regionalliteratur zerbricht
Es lässt sich beobachten, dass im literarischen Klima der 80er der Roman stärker hervortrat. Schrittweise fand die Populärkultur das Interesse breiter Bevölkerungskreise. In einer Gesellschaft, die gerade erst begann, sich "Hobbys" zuzulegen, wurde das Lesen eine Notwendigkeit.
Für den Roman dieser Zeit lassen sich zwei Fakten feststellen: Die Geschichte wurde zum Thema für Romane, und der Krimi begann als eigenständiges Genre Interesse zu wecken. Das Verständnis einer Regionalliteratur, wie sie seit den 30er Jahren bestanden hatte, verlor sich, die Probleme der Sozialisierung sowie die neue Weltordnung eroberten sich ihren Platz in der Literatur.
Auch wurden Romane über den Sinn von Gesellschaft, über das Gestern im Licht des Geschichtsbewusstseins wie auch über das Heute geschrieben.
Nobelpreis für Orhan Pamuk
Die Vorstellung, der Roman sei ein probates Mittel, um die Gesellschaft und den Menschen in der Gesellschaft zu begreifen, setzte sich durch. In gewisser Hinsicht war die Akzeptanz der Idee, dass der Weg zur Aufklärung über den Roman führe, mit ein Grund dafür, dass er zu einer der häufigsten literarischen Ausdrucksformen wurde.
Der Roman ist jenes Genre, in dem die Prosa ihr Dasein und ihre Reife am besten erweisen kann, weshalb er auch in der Wahrnehmung der türkischen Literatur im Ausland in den Vordergrund trat. In diesem Sinne ist nicht zu unterschätzen, welchen Einfluss der hohe Entwicklungsstand der türkischen Prosa auf die Entwicklung hat, die Orhan Pamuk den Nobelpreis einbrachte.
Neben dem verstärkten Ausdruck weiblicher Stimmen und der Thematisierung weiblicher Existenz, der Identitätssuche und –problematik in den 80er Jahren etablierten sich gleichzeitig auch Themen wie Stadt, Verstädterung, Migration, Identitätssuche, Ost-West-Konflikt, Sexualität, Geschlechterbeziehungen, Minderheitenidentität, Sozialgeschichte, politische Realität, Provinzrealität, Ausweglosigkeit des Individuums und Entfremdung.
Die Modernisierung der Literatur
Die Literatur der vergangenen dreißig Jahre ging das Abenteuer ein, die Modernisierung, wie sie in der "frühen republikanischen Phase" seit etwa 1900 eingesetzt hatte, fortzuentwickeln.
1900-1930 war die Phase des Kennenlernens, der Definition von Gesellschaft und der Formulierung ihrer Probleme; 1940-1960 gesellte sich eine literarische Idee hinzu, so dass nun nicht nur danach gefragt wurde, was warum zu erzählen sei, sondern auch darauf geschaut wurde, wie es zum Ausdruck gebracht werden solle.
In der Phase nach 1970 wurde nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung thematisiert, sondern auch die Außenwelt mit einbezogen. Die internationalen Geschehnisse erhielten verstärkt Beachtung, und es wurde erprobt, wie der Blick auf die eigene Gesellschaft gestaltet werden könne.
Neben der Idee, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, entstand die Überzeugung, das Leben aus der Literatur heraus begreifen und abbilden zu können.
Diese Epoche brachte den Begriff des "neuen Schriftstellers" in der türkischen Literatur hervor: Nun traten solche Schriftsteller in den Vordergrund, die sich nicht mehr nur mit dem eigenen Text beschäftigten, sondern das Leben aus vielerlei Perspektiven betrachten und bewusst darüber schreiben konnten.
Feridun Andaç
© Qantara.de 2007
Übersetzung aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Qantara.de
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