Ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht
Leidenschaftliche Literaturwissenschaft? Ist so etwas vorstellbar? – Nein, an sich darf Wissenschaft ihrem Wesen nach nicht emotional, nicht leidenschaftlich sein. Dennoch stellt sich diese Frage in Atef Botros Werk "Kafka, ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht" gewiss neu. Denn seine profunde und umfassende literaturwissenschaftliche Analyse der arabischen Kafka-Rezeption schließt mit einem leidenschaftlichen Appell für Frieden im Nahen Osten. Doch dabei leidet die Wissenschaftlichkeit des Werkes in keiner Weise, vielmehr befruchten sich eine engagierte, kritische Sicht auf den Konflikt im Nahen Osten und brillante literaturwissenschaftliche Analyse gegenseitig und geben dem Buch so seine genuine Qualität. Im Vordergrund des Werkes steht die Untersuchung der arabischen Kafka-Rezeption von 1939 bis zur Gegenwart, also die Frage, wie Kafkas Werke in den letzten siebzig Jahren in der arabischen Welt verstanden und interpretiert wurden. Botros geht dabei von drei Phasen der Rezeption aus, welche er jeweils ausführlich beschreibt und im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen, intellektuellen und literarischen Implikationen untersucht.
Kafka-Rezeption in Orient und Okzident
Den frühen Anfang macht ab 1939 einerseits die arabisch-frankophone Beschäftigung mit den Werken des Prager Schriftstellers in surrealistischen Kreisen, deren bekanntester Vertreter, der Dichter Georg Heinen, etliche Artikel auf Französisch verfasst. Andererseits macht es sich Taha Husein zur Aufgabe, seine intensive Auseinandersetzung mit Kafkas Gedankengut der arabischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Präzise wird nachgezeichnet, wie die Ideen Franz Kafkas in die intellektuellen Projekte der beiden Autoren fließen. Letzteren unterstützen sie in seinem Konzept der säkularen Lesbarkeit islamischer Traditionen, ersterem dienen sie als Argumente im antifaschistischen Kampf der surrealistischen Bewegung und im Kontext einer säkularisierenden Avantgarde-Bewegung in Ägypten.
Im Anschluss an diese erste Phase folgt in den 1960er Jahren eine intensive Übersetzungstätigkeit der Werke Kafkas ins Arabische, welche nicht nur ein steigendes Interesse in breiteren intellektuellen Kreisen, sondern auch eine vermehrte produktive Rezeption, die Verarbeitung kafkaesker Themen und Motive in zeitgenössischen arabischen Werken also, mit sich bringt. Diese bringt Botros in einigen Beispielen an und stellt an ihnen nicht nur den kulturellen Transfer dar, den diese eigenständige literarische Verarbeitung bedeutet, sondern er beschreibt an ihrem Beispiel zugleich den bedeutenden Platz, den Kafka in der Erneuerungsbewegung spielt, die zu dieser Zeit in der arabischen Literatur spürbar ist.
Im politischen Spannungsfeld
Dieser kurzen Spanne breiter Popularität folgt dann eine Lesung Kafkas im Kontext politischer und politisierter Debatten ab den 1970er Jahren, welche sich am Zionismus des Juden Kafka entzündet. Nach einer ausführlichen Besprechung dieser inner-arabischen Konfrontation in all ihrer ausufernden Polemik geht Botros, um diese zu erklären, dazu über, die arabischen und europäischen Sichtweisen auf das Phänomen des Zionismus Stück für Stück zu dechiffrieren.
Anhand des Vergleichs der unterschiedlichen Rezeptionen von Kafkas Erzählung Schakale und Araber enthüllt Botros die unterschiedlichen Konstruktionen und Perspektiven auf den Zionismus: Europäische Beobachter sähen jüdische Geschichte und jüdisch-arabische Auseinandersetzung zwangsläufig durch die Ereignisse der Shoah wobei arabische Reflexionen – ebenso zwangsläufig – vom israelisch-palästinensischen Konflikt und den arabischen Niederlagen ausgingen. Diese Perspektiven fänden so Anwendung bei den divergierenden Rezeptionen der Werke Kafkas: er sei entweder Zionist oder Antizionist. Atef Botros schlägt hier eine andere Lesart der politischen Haltung Kafkas vor: Man müsse ein tieferes Verständnis des Kontextes entwickeln, in dem sich der jüdische Schriftsteller zu seiner Zeit positionieren musste, damit man eben jene "Schwarz-Weiß-Schemata" durchbrechen könne. Abstrahiert bedeutet dies auch eine andere Sichtweise des Konflikts im Nahen Osten: Botros fordert die kritische Betrachtung, die weitere Erforschung der Perspektiven, die den Blick auf den jeweils Anderen beeinflussen, um so ein besseres Verständnis des komplexen Konflikts zu erhalten.
Perspektiven auf den Nahostkonflikt
Botros öffnet so auf eindrucksvolle Weise, über den Umweg der Rezeption, einen intellektuellen Zugang zum Verständnis des Konflikts im Nahen Osten. Und genau diese Mehrdimensionalität der Arbeit ist es, die es dem Autor ermöglicht, seine fundierte wissenschaftliche Analyse der arabischen Rezeption des jüdischen Literaten Kafka in dem emotionalen Appell und Wunsch enden zu lassen, dass "alle Seiten des Konfliktes endlich reuend feststellen […]: 'Ein Missverständnis ist es, und wir gehen daran zugrunde'". Das Buch richtet sich sowohl an das Fachpublikum als auch an den interessierten Laien. Es besticht daher durch seine klare Beschreibung der komplexen Rezeptionsvorgänge. Die Einbettung seiner Untersuchungen in eine umfassende Betrachtung arabischer Geistesgeschichte des 20.Jahrhunderts lässt das Werk auch ohne tiefgreifende Vorkenntnisse verständlich erscheinen. Kategorisieren lässt sich "Kafka, ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht" mit einem Wort also nicht: das Buch ist sowohl eine eingehende, komplexe Analyse transkultureller Rezeptionsprozesse und eine historisch-präzise, profunde literaturwissenschaftliche Arbeit, als auch ein Appell, den Konflikt im Nahen Osten in einem neuen Licht zu sehen. Welchen Aspekt man auch betonen oder herauslesen möchte – die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall.
Julian Tangermann
© Qantara.de 2010
Atef Botros: "Kafka, ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht", Reichert-Verlag 2010, 276 Seiten