England ist anders
Mit der Konferenz "Muslime in der säkularen Demokratie" versuchte die Heinrich-Böll-Stiftung, einen Vergleich der Integrationspolitik in Deutschland, Frankreich und England zu ziehen. Lennart Lehmann hat sich über die Situation in England informiert.
Eine grundlegend andere Ausgangsposition im Umgang mit Muslimen als in Frankreich oder Deutschland bescheinigt Paul Weller, Professor für Interreligiöse Studien an der Universität in Derby, den Briten.
Und das nicht nur aufgrund der kolonialen Erfahrung.
"In Frankreich hat man während der Französischen Revolution abstrakte Ideale geschaffen, die an die Bürger angelegt werden, wie Gleichheit und Laizismus. England ist mehr durch die spezielle Rechtsprechung, das Common Law, geprägt."
Das Resultat sei, dass man auf der Insel pragmatischer an die Dinge herangehe. Man hat dort Schwierigkeiten, Phänomene wie die Diskussion um das Kopftuch in Frankreich und Deutschland nachzuvollziehen.
Sikhs haben keine Helmpflicht
Das Common Law greift auf eine Tradition teilweise Jahrhunderte alter Präzedenzfälle zurück. Diese erlauben, so der Londoner Jurist Jons Flemming Lehmann, allerdings Ausnahmen.
"Ein Richter kann in einem Einzelfall entscheiden, dass eine gängige Auslegung zum Beispiel nicht mehr zeitgemäß ist, und sich anders entscheiden. Wird diese Entscheidung später auch in anderen Fällen geltend gemacht, wird nach einer Zeit die Ausnahme zur Regel."
Von dieser Flexibilität profitierten zum Beispiel Englands Sikhs, die bis heute keine Helme tragen müssen, sei es auf dem Motorrad oder als Polizisten: Da ihre langen Haare und der darum gewickelte mächtige Turban untrennbar mit ihrem Glauben verbunden sind, gestatteten Richter diese Regelung.
Sikh-Polizisten tragen einen schwarzen Turban mit kariertem Band. "Ein Gesetz, dass besagt, alle sind gleich, gibt es in England nicht", bestätigt der Londoner Jurist Jons Lehmann.
Kein Gesetz gegen Diskriminierung
Wer daraus schlussfolgert, alles sei erlaubt, irrt. Im Norden Londons wurde einer Schülerin untersagt, einen den ganzen Körper bedeckenden Dschilbab zu tragen. Die Schuluniform mit integriertem Kopftuch berücksichtige die Bedürfnisse gläubiger Schüler in ausreichendem Maße.
Das englische Gesetz schützt zwar vor Benachteiligungen aufgrund der Hautfarbe, "rein theoretisch aber", so Weller, "können Menschen in England wegen ihres Glaubens legal diskriminiert werden, da es kein Gesetz gibt, das so etwas verbietet."
Darauf macht auch Arzu Merali von der Islamic Human Rights Comission in London aufmerksam: Nach wie vor lebt ein überproportionaler Teil von Englands Muslimen in den ärmeren Wohnbezirken, findet schwerer Arbeit und hat eine schlechtere Ausbildung.
Das sind allerdings Probleme, mit denen auch Einwanderer aus dem südlichen Afrika oder der Karibik zu kämpfen haben, und die in einem latenten gesellschaftlichen Rassismus begründet sind, so Merali.
Rassistische Ausfälle
Muslime in England fordern daher eine Gleichstellung mit dem weißen England. Eine spezifische Selbstdefinition als muslimische Community macht Merali dabei nicht aus.
Muslime in Großbritannien identifizierten sich, so die Menschenrechtlerin, in erster Linie als Bürger des Vereinigten Königreiches.
"Die Communities ordnen sich eher nach Nationalitäten." Die muslimische Bevölkerung im Königreich setzt sich aus 35 Nationen unterschiedlichster Sprach- und Kulturräume zusammen.
Trotzdem ist nicht alles harmonisch in Großbritannien. In Erinnerung sind noch die schweren Straßenschlachten in Manchester, an denen viele Mitglieder der Community aus Bangladesch beteiligt waren.
Auch sind nicht wenige rassistische Ausfälle von Jugendlichen aus Einwandererfamilien gegen Engländer dokumentiert.
Muslime sollen sich mehr einbringen
Viele konservative Muslime wünschen sich, dass ihre Kinder an islamische Schulen gehen und nach Geschlechtern getrennt unterrichtet werden. Derzeit gibt es nur eine staatlich geförderte islamische Schule im Lande Shakespears - das Kopftuch trägt man dort freiwillig.
Mohamed Aziz von der Comission for Racial Equality and Human Rights fordert die Muslime auf, sich mehr in die ganze Gesellschaft einzubringen. Er nennt Beispiele, wo in muslimischen Nachbarschaften Gelder für allgemein wohltätige Projekte gesammelt wurden, etwa für Krankenhäuser oder soziale Begegnungsstätten.
Auf diese Weise könnten Muslime deutlich machen, dass sie ein wichtiger Bestandteil der heutigen Gesellschaft sind und Misstrauen abbauen.
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2004