Eine vielschichtige Beziehung
Herr Ghandour, ist der Cannabis-Konsum mit dem Islam vereinbar?
Ali Ghandour: Wir können hier nicht von dem Islam sprechen, weil es so etwas eigentlich gar nicht gibt. Was den normativen Diskurs zum Thema betrifft, so gibt es unter den Musliminnen und Muslimen drei Lager. Das erste Lager sieht Cannabis als etwas Verbotenes an. Das zweite Lager hingegen betrachtetet den Cannabis-Konsum als etwas Erlaubtes. Das dritte Lager erlaubt den Konsum kleiner Mengen, die den Verstand nicht zu sehr trüben.
Gibt es unterschiedliche Auslegungen in den muslimischen Konfessionen bzw. Rechtsschulen?
Ghandour: Zu den Vertretern des Verbots gehören die Schafiiten, Hanbaliten, Schiiten und einige Malakiten und Hanafiten. Sie machen keinen Unterschied zwischen großen und kleinen Mengen. Einige Malikiten und Hanafiten verbieten nur die Menge, die den Verstand benebelt.
Gibt es eine dominierende Tendenz unter den muslimischen Gelehrten?
Ghandour: Die Mehrheit der Rechtsgelehrten hält den Konsum von Cannabis für verboten. Die Position der Theologen wurde allerdings etwa ab dem 13. Jahrhundert immer strenger, weil der Cannabis-Konsum zu dieser Zeit in vielen muslimischen Ländern zu einem Massenphänomen geworden war, insbesondere unter den Mamluken und Osmanen. Dies erklärt, warum die meisten Traktate gegen den Cannabis-Konsum aus dieser Zeit stammen.
Im Koran selbst und in den Überlieferungen des Propheten Mohammed gibt es keine Hinweise zu Cannabis, geschweige denn ein explizites Cannabis-Verbot. Wie also begründen die Gelehrten diese – wie sie sagen – Sünde?
Ghandour: Die Rechtsgelehrten, die sich gegen den Cannabis-Konsum aussprechen, berufen sich auf eine muslimische Rechtsmaxime, die besagt, dass alles, was in großen Mengen berauschend wirkt, nicht in kleinen Mengen konsumiert werden darf.
Cannabis, das "Sufi-Kraut"
Eindeutiger als beim Cannabis ist der Fall beim Alkohol. Zwar wird im Koran der Begriff Alkohol nicht wörtlich erwähnt, wohl aber der arabische Begriff Khamr. Darunter versteht die Mehrheit der muslimischen Gelehrten alle alkoholhaltigen Getränke. Im Koran heißt es, in Sure 5, Vers 90: "O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Gräuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf dass es euch wohl ergehen möge!“ Bemerkenswert ist, dass in manchen Koranversen dem Alkohol durchaus positive Aspekte zugesprochen werden, die Nachteile jedoch überwiegen. Gibt es Gelehrte, die dem Cannabis mehr positive als negative Eigenschaften zuschreiben?
Ghandour: Es gibt Gelehrte, die keine Parallele zum Alkohol sehen, der von der absoluten Mehrheit verboten wurde. Außerdem glauben diese Gelehrten, dass der Nutzen von Cannabis größer ist als sein Schaden. Die Geschichte von Cannabis in muslimisch geprägten Gesellschaften war eng mit der Geschichte einiger Sufi-Bewegungen verbunden, so dass Cannabis als das 'Sufi-Kraut’ bezeichnet wurde. Einige Sufis führten den Cannabis-Konsum sogar in ihre Rituale ein. Cannabis half ihnen, entweder zu entspannen oder in Trancezustände zu gelangen und es gab einen Sufi, der Haschisch das 'Häppchen der Meditation‛ nannte.“
Nun vertreten die Sufis eine besonders spirituelle und mystische Ausprägung im Islam. Doch auch jenseits des Sufismus ist der Cannabis-Konsum in vielen muslimisch geprägten Ländern weit verbreitet, darunter in den Maghreb-Staaten, der Türkei oder Pakistan. Auch in Deutschland wird Cannabis von Muslimen konsumiert. Woran liegt das?
Ghandour: Vielleicht betrachten diese Muslime den Cannabis-Konsum gar nicht als Sünde, denn jede Muslimin und jeder Muslim hat das Recht, eine theologische Position zu vertreten, die den eigenen Bedürfnissen und Überzeugungen entspricht. Tatsache ist jedoch, dass es Gelehrte gab und gibt, auch wenn sie nicht in der Mehrheit sind, die sich für den Cannabis-Konsum ausgesprochen haben. Als Muslim darf man solche Positionen vertreten. Eine Kirche, die zentral entscheidet, was erlaubt ist und was nicht, gibt es unter Musliminnen und Muslimen nicht.
Die ethische Fragestellung ändert sich nicht
Welche Strafen drohen Muslimen in islamisch geprägten Ländern, wenn sie Cannabis konsumieren?
Ghandour: In den meisten muslimisch geprägten Ländern wie Marokko, Tunesien oder Ägypten wird der Besitz oder Konsum von Cannabis entweder mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet, also ähnlich wie in Deutschland oder Frankreich.
Nun wird Cannabis in Deutschland möglicherweise legalisiert, obwohl es laut muslimischer Mehrheitsmeinung eine Sünde darstellt. Können Muslime hierzulande nun mit einem guten Gewissen Cannabis konsumieren, weil es der Staat erlaubt?
Ghandour: Für Muslime in Deutschland wird sich nichts ändern. Wenn man etwas legalisiert, dann ändert dies nichts an den religiösen Überzeugungen von derjenigen, die Cannabis aus religiösen Gründen nicht konsumieren.
Seit fünf Jahren darf Cannabis in Deutschland aus medizinischen Gründen legal auf Rezept verschrieben werden. Wird der Cannabis-Konsum aus medizinischen Gründen aus islamischer Perspektive ebenfalls als halal, also erlaubt, betrachtet?
Ghandour: Der Cannabis-Konsum zu medizinischen Zwecken wurde von der Mehrheit der muslimischen Gelehrten erlaubt, weil hier eine Notwendigkeit besteht. Cannabis wurde auch im Mittelalter als Schmerz- und Beruhigungsmittel genutzt. Auch für Süchtige wurde es erlaubt. Und zwar für diejenigen, die kleine Mengen konsumieren müssen, um sich langsam vom Konsum zu entwöhnen. Die deutschen Gesetze und die religiösen Überzeugungen von Muslimen müssen dementsprechend kein Widerspruch sein.
Interview: Said Rezek
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Dr. Ali Ghandour ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Studien der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Praktische Theologie und die Kulturgeschichte muslimisch geprägter Gesellschaften. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich auch mit der Frage des Cannabiskonsums.