Täter als Vaterlandsverräter
Obwohl die wenigsten türkischen Medienvertreter Hrant Dinks politische Überzeugungen teilten, waren sie sich zumindest in der Verurteilung des Mordes an dem renommierten Journalisten einig. Antje Bauer fasst die verschiedenen Pressestimmen der letzten Tage zusammen.
"Die feindliche Kugel ist nach hinten losgegangen: Die Türkei ist geeint" – so titelte das türkische Massenblatt "Hürriyet" am Tag, nachdem 100.000 Trauernde dem am vergangenen Freitag ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul das letzte Geleit gegeben hatten.
Und in der Zeitung Milliyet bemerkte der Kommentator Fikret Bilar mit Genugtuung: "Das türkische Volk hat einmal mehr bewiesen, dass es Morde, blutige Politik, Frontenbildung und Waffen ablehnt."
Tödliche Kugeln für die Türkei
Diese beiden Aussagen treffen den Grundtenor der türkischen Presse bezüglich des Mordes an Hrant Dink – ein Grundtenor, den bereits Premierminister Tayyıp Erdoğan in einer ersten Stellungnahme vorgegeben hatte, als er sagte, die tödlichen Kugeln hätten die Türkei als Ganzes getroffen.
Hrant Dink, der wegen seiner Äußerungen über den Völkermord an den Armeniern vor Gericht gezerrt und von den großen türkischen Medien als "Vaterlandsverräter" gebrandmarkt worden war, dient denselben Medien nun nach seinem gewaltsamen Tod dazu, ebendiese Einheit des Vaterlandes neuerlich zu beschwören.
Jenseits dieser Hauptmaxime und der allseits verkündeten, allgemeinen Verurteilung von Gewalt war der Berichterstattung über den Mord und den Reaktionen hierauf jedoch deutlich anzumerken, wes Geistes Kind der jeweilige Schreiber ist und welche Haltung er gegenüber Hrant Dink bzw. gegenüber dem Minderheitenproblem in der Türkei einnimmt.
Bedrohung der Meinungsfreiheit
In der linken Tageszeitung "Birgün", für die Hrant Dink schrieb, empört sich Melih Pekdemir: "Ihr sagt, diese Kugel sei gegen die Meinungsfreiheit abgefeuert worden. Tatsächlich ist diese Kugel gegen unser Hirn, das diese Gedanken hervorbringt, gefeuert worden. Euren Gedanken stößt nie etwas zu" – wobei er nicht spezifiziert, an wen er sich damit genau wendet.
Von Ismet Berkan, dem Chefredakteur der linksliberalen Zeitung "Radikal", wird angenommen, dass er, wie auch Nobelpreisträger Orhan Pamuk, ganz oben auf den kursierenden Todeslisten steht.
Nachdem mehrere Kolumnisten die Regierung angegriffen hatten, weil sie Hrant Dink – der bekanntermaßen Drohbriefe erhielt – nicht gegen seinen Willen geschützt hatte, haben sowohl Berkan wie auch Pamuk nun Bodyguards zur Seite gestellt bekommen.
In einem Artikel sinniert Berkan über diesen unangeforderten Schutz und über die Frage, ob er das Land verlassen soll, ehe ihn dasselbe Schicksal ereilt wie Hrant Dink. Er kommt jedoch letztlich zu dem Schluss, in seinem Land zu bleiben.
Von Verschwörern und Vaterlandsverrätern
Das Massenblatt Hürriyet gibt sich liberal: Während Chefredakteur Ertuğrul Özkök den Spieß umdreht und den Mörder des Journalisten als "Vaterlandsverräter" bezeichnet, darf der nationalistische Kolumnist Emin Çölaşan in derselben Ausgabe seiner Lieblingsthese von einer Verschwörung ausländischer Mächte frönen und zwei Tage darauf fordern, ob des Falls Hrant Dink doch nicht die zahlreichen anderen Opfer politischer Morde zu vergessen.
Während Ahmed Şahin in der seriösen islamischen Tageszeitung "Zaman" unter Bezug auf Begebenheiten aus der Zeit des Propheten Mohammed darlegt, dass ein Muslim niemanden aufgrund seiner Rasse diskriminieren darf, geschweige denn ermorden, zeigt sich die extremnationalistische islamistische Zeitung "Vakit" selbstbewußt:
Psychopathen aus den Vorstädten
So hält "Vakit"-Kolumnist Serdar Arseven die sich konkretisierende These, dass hinter dem Mord an Hrant Dink die extremen Nationalisten von der "Großen Einheitspartei" (BBP) stehen, für einen Versuch, diese Partei, die einen "besonders dynamischen Teil der Jugend" anziehe, zu zerstören.
Dieses Mal sollten die Hintermänner des Attentats gefunden werden, so lautet eine weit verbreitete Forderung in der türkischen Presse nach dem Mord an Dink – Ausdruck des Verdachts, dahinter steckten Nationalisten, Islamisten oder der "tiefe Staat", wie in der Türkei mafiöse, politische Seilschaften genannt werden. Inzwischen neigen die Massenmedien aber auch vermehrt zu einer anderen These.
So schreibt beispielsweise Ertuğrul Özkök von der "Hürriyet": "Die Psychopathen aus den Vorstädten entwickeln sich langsam zur gefährlichsten Terrorkette dieser Gesellschaft. Das ist keine politische, sondern eine soziale und kulturelle Angelegenheit – hierfür brauchen wir Psychologen."
Antje Bauer
© Qantara.de 2007
Qantara.de
Hrant Dinks letzte Kolumne
"Die taubenhafte Furcht meines inneren Geistes"
Hrant Dinks letzter Artikel in der armenisch-türkischen Zeitung "Agos" vom 10. Januar 2007 dokumentiert detailliert das zweifelhafte Gebaren der türkischen Justizbehörden in seinem Fall.
Mord an türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink
Ein Leben für Versöhnung und Dialog
Nach dem Mord an dem prominenten Journalisten Hrant Dink steht die Türkei noch immer unter Schock. Dorian Jones berichtet aus Istanbul über den couragierten Publizisten, der sich sein Leben lang für Demokratie und Freiheit einsetzte.