Rechte stehen nur auf dem Papier
Die offizielle Darstellung von Problemen wie der Kurdenfrage sei "überwiegend beschönigend, wenn nicht gar falsch", heißt es im dem Abschlussbericht einer internationalen Juristen-Delegation, der DW-WORLD vorab vorliegt.
Die Türkei habe zwar vielerlei Anstrengungen für einen demokratischen Umbau unternommen. Es gebe jedoch "eine große Diskrepanz zwischen Gesetzesreformen und Umsetzung in der Praxis". Die von der türkischen Regierung eingeleiteten Reformen seien zudem halbherzig.
Türkische Menschenrechtler hätten gegenüber der Delegation betont, dass sich "Mentalität und Denken in der türkischen Regierung und im Staatsapparat noch nicht wirklich grundlegend geändert haben". Die türkische Regierung müsse ein umfassendes Programm für die politische, sozial-ökonomische und kulturelle Gleichberechtigung des kurdischen Volkes entwickeln.
"Solange sie dazu nicht bereit ist, kann ein Beitritt zur EU nicht empfohlen werden", heißt es in dem Bericht. Darin wird auch die Einrichtung einer Kommission zur Überwachung der Reformen hinsichtlich der Menschenrechte in der Türkei gefordert, an der auch Nicht-Regierungsorganisationen der Türkei und aus EU-Staaten zu beteiligen sind.
Kurden werden weiter unterdrückt
Die sechsköpfige Delegation aus renommierten deutschen und südafrikanischen Juristen war Mitte Januar auf eigene Initiative nach Ankara und Istanbul gereist. Unter den Teilnehmer waren unter anderem Rolf Gössner, Präsident der Deutschen Sektion der Internationalen Liga für Menschenrechte und Norman Paech, Völkerrechtler der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik und Mitglied der Europäischen Vereinigung von Juristen für Demokratie und Menschenrechte.
Aus Südafrika war mit Essa Moosa ein Richter des südafrikanischen High Court dabei, sowie Jacobens Johannen Moses von der National Association of Democratic Lawyers. Auf dem Programm der Delegation, die im Auftrag ihrer Organisationen reisten, standen zahlreiche Gespräche mit Menschenrechtlern, Vertretern der türkischen Regierungspartei AKP und Parlamentsabgeordneten.
Die Juristen konstatieren, dass ein grundsätzliches Umdenken in der Kurdenfrage bei Regierung, Militär und Parteien noch nicht eingesetzt habe. Die offizielle Politik sei noch weit davon entfernt, die Identität der Kurden als gleichberechtigtes Volk mit gleichen Rechten und Freiheiten anzuerkennen. Trotz mancher gesetzlicher Veränderungen werde die kurdische Sprache immer noch mit zahlreichen Behinderungen, Schikanen, Verboten und Verfolgungen faktisch unterdrückt.
EU muss Druck machen
Eigene kurdische Radio- und TV-Sender gebe es nicht, stattdessen komme es immer wieder vor, dass die Übertragung kurdischer Lieder mit Sendeverboten sanktioniert wird. Die beiden wöchentlichen Halbstundensendungen im staatlichen Fernsehen – von offizieller Seite wiederholt als Fortschritte in der Kurdenfrage gepriesen - seien nichts anderes "als ins Kurdische übersetzte Propagandasendungen".
"Die sieht sich niemand an", sagt Paech. Zudem sei nach wie vor Artikel 81 des Parteiengesetzes in Kraft, der den politischen Parteien die Benutzung jeder anderen Sprache außer Türkisch verbietet.
Die Juristen fordern die EU auf, die Kurdenfrage zu einem zentralen Element ihrer Verhandlungen zu machen. Der Einfluss der EU bei den Beitrittsverhandlungen sei der wirksamste Faktor für eine friedliche und politisch gerechte Lösung des Kurdenproblems.
Öcalan in Isolationshaft
Bei ihrer Reise wollten sich die Juristen auch einen Eindruck von den Haftbedingungen für den früheren Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK) Abdullah Öcalan im Gefängnis auf der Insel Imrali verschaffen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einer ersten Entscheidung im März 2003 den Prozess gegen Öcalan als unfair bezeichnet. Die türkische Regierung legte dagegen Berufung ein, eine Entscheidung über diese Frage wird in diesem Frühjahr erwartet.
Nach Ansicht der Menschenrechtler hat sich nichts an den verschärften Haftbedingungen für Öcalan geändert. Gössner, Paech und Moosa beschäftigen sich als internationale Beobachter des Öcalan-Revisionsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besonders intensiv mit dem Fall. Die Juristen beklagen, dass der Delegation ein Besuch vom türkischen Justizminister "aus Sicherheitsgründen" verweigert worden sei.
Ihrer Ansicht nach befinde sich Öcalan in "Isolationshaft", seine Familienangehörigen und Anwälte würden an Besuchen gehindert. Isolation sei eine Methode, die auch als "weiße Folter" bezeichnet wird. Sie sei dazu geeignet, die Persönlichkeit und den Willen von politischen Gefangenen zu brechen.
Die Menschenrechtler mahnen Verbesserungen an. Der Fall Öcalan sei ein "Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung", heißt es in dem Bericht weiter, der im Februar veröffentlicht werden soll. Öcalans Haftbedingungen müssten im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen, anders als bisher, zentraler Verhandlungsgegenstand werden.
Steffen Leidel
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005