"Die Idee männlicher Dominanz ist in der Krise“
Frau Oussedik, Sie haben den Wandel der Familienstrukturen in Algerien erforscht. Welches sind für Sie die Haupttreiber des Wandels?
Fatma Oussedik: Es ist mir wichtig zu sagen, dass wir eine Gesellschaft im Wandel sind, denn allzu oft projiziert man auf arabische Gesellschaften die Vorstellung, wir seien unbeweglich. Meine Erhebung in den drei Städten Algier, Oran und Annaba war Teil einer größeren Studie mit qualitativen Umfragen bei 1200 Familien in allen Städten, die wir zusätzlich mit Interviews vertieft haben.
Der größte Faktor für Wandel ist die rapide Urbanisierung. In den 1960er Jahren hat die Mehrheit der Bevölkerung noch in ländlichen Gebieten gelebt bis in die 1970er Jahre, heute leben 70 Prozent der Algerier in den Städten vor allem im Norden des Landes.
Ein weiterer Faktor ist die Bildung. 98 Prozent der Kinder besuchen heute eine Grundschule, Jungs und Mädchen, und an den Universitäten sind 70 Prozent der Studenten weiblich. Das ist ein Trend, den wir weltweit sehen, und zwar quer durch die Fakultäten.
Die Tatsache, vom Land in die Stadt zu ziehen, das Haus der Großfamilie zu verlassen und eine Wohnung mit der Kleinfamilie zu finden, Kontakte über das Land hinaus mit dem Rest der Welt zu pflegen durch Reisen etwa: All das zusammen hat das Leben der Algerierinnen und Algerier stark verändert.
Die Urbanisierung hat die Größe der Familien und den Status der einzelnen Familienmitglieder wesentlich verändert. Im Algerien von heute gehen alle Mädchen zur Schule und sie sind sich ihrer Studienabschlüsse bewusst.
Selbst wenn der Anteil der berufstätigen Frauen noch sehr niedrig ist, die Quote liegt bei ca. 20 Prozent: In meinen Interviews bezeichnen sie sich nicht mehr als Hausfrauen, sondern als Arbeitslose. Sie wissen um ihre Qualifikation, auch wenn es für sie aufgrund der wirtschaftlichen Situation schwierig ist, eine Stelle zu finden.
Bildung und Einkommen verändern alles
Was ändert sich, wenn Frauen berufstätig sind?
Oussedik: Frauen, die einen Job gefunden haben, können über eigenes Geld verfügen und das verändert ihren Status grundlegend. Sie haben dann das Sagen bei den Ausgaben der Familie, sie nutzen ihren Einfluss bei den Bildungskarrieren der Kinder. Frauen kümmern sich um die alten Eltern, entscheiden zunehmend die wirtschaftlichen Fragen in einer Familie, bestimmen die Schulkarrieren der Kinder und treffen Konsumentscheidungen.
Die Verwaltung des Vermögens steht aber immer noch den Männern zu. Grund und Boden sowie Autos gehören in der Regel den Männern, was bei Scheidungen häufig zu großen Problemen führt. Frauen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, finden sich nach einer Scheidung immer noch mittellos wieder, selbst wenn sich die Position der Frauen in der Familie deutlich verändert hat.
Also sind es vor allem wirtschaftliche Faktoren, die Veränderungen antreiben?
Oussedik: Nicht nur. Das Wissen durch Bildung ist zentral, dann aber auch das Geld. In einem patriarchalen System, wie wir es in den Gesellschaften des Mittelmeerraumes kennen, ist es der Pater Familias, der die Familie nach außen repräsentiert und die wichtigen Entscheidungen fällt. Aber mit der Arbeitslosigkeit und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die wir heute haben, verlieren die Männer viel von ihrer Macht in den Familien.
Das schwächt die traditionelle Männlichkeit, Frauen dagegen konnten sich neue Freiräume erobern, vor allem wenn sie Geld verdienen. Traditionell bestand die Rolle der Männer darin, die Familie zu ernähren und sie nach außen zu verteidigen. Frauen sollten die Kinder gebären. Heute ist die Zahl der Kinder, die eine algerische Frau durchschnittlich zur Welt bringt, gesunken, das Heiratsalter gestiegen.
Frauen in Algerien heiraten heute im Alter von 30 Jahren, Männer mit 35. Was auch neu ist: Es gibt etwa seit dem Jahr 2000 in Algerien Frauen, die gar nicht heiraten. Das sind etwa 6 Prozent aller Frauen. Sie leben allein, treffen ihre Entscheidungen allein, beteiligen sich an sozialen Bewegungen, reisen, allein oder in Gruppen. Daran sieht man, wie sehr sich die Rollenvorstellungen wandeln.
Wie geht Gleichberechtigung im Familienrecht?
In ihrem neuesten Buch spricht die Anthropologin und Frauenrechtlerin Ziba Mir-Hosseini mit sechs führenden muslimischen Reformerinnen und Reformern über Gender, Frauenrechte und das islamische Familienrecht. Das Interview führte Tugrul von Mende für Qantara.de.
Frauen kaufen sich aus der Ehe frei
Bitte nennen Sie noch ein Beispiel für die Veränderungen.
Oussedik: Man sieht die Veränderung zum Beispiel bei den Scheidungen. Nach islamischem Verständnis konnten sich Frauen früher mehr oder weniger gar nicht scheiden lassen. Nur der Mann konnte die Frau verstoßen – diese Form der Scheidung ist immer noch die häufigste Form der Scheidung in Algerien.
Gleich dahinter kommen allerdings die sog. Khol-Scheidungen. Sie geben Frauen das Recht, eine Ehe aufzulösen. Dafür müssen sie im Gegenzug auf ihre finanziellen Ansprüche verzichten, Khol-Scheidungen sind eine Art Freikauf.
Frauen nutzen diese Möglichkeit sehr häufig und das wird auch öffentlich sichtbar. Als ich 1988 dazu eine Umfrage gemacht habe, war noch die Vorstellung verbreitet, dass Männer den öffentlichen Raum und Frauen den privaten Raum besetzen.
Damals waren nur rund 10 Prozent der Frauen berufstätig, also noch viel weniger als heute, und eigentlich nur in drei Berufsfeldern. Sie haben als Lehrerinnen, im Gesundheitswesen und in der Verwaltung gearbeitet, alles Berufe, in denen sie öffentlich nicht sichtbar waren. Wenn Sie heute nach Algier kommen, dann treffen sie auf Kellnerinnen überall in den Bars in der Innenstadt, es gibt keinen Postschalter, keinen Bankschalter ohne Frauen, sie sind überall vertreten.
Wirkt sich das auch darauf aus, wie heute Ehen geschlossen werden? Werden heute überhaupt noch Ehen arrangiert?
Oussedik: Heute sind die Universitäten, der Arbeitsmarkt und vor allem Facebook die wichtigsten Heiratsmärkte. Wenn ich junge Menschen frage, ob ihre Eltern den Partner ausgewählt haben, dann bekomme ich in der Regel die Antwort: Nein, wir haben uns auf Facebook kennengelernt und uns dann heimlich getroffen.
Diese Vorstellung von der Ehe, bei der die Frau in früheren Zeiten ihren zukünftigen Ehemann erst zur Hochzeit getroffen hat, muss man allerdings etwas entmystifizieren. Auch früher haben Frauen meistens doch Formen der Begegnung mit dem Zukünftigen gefunden. Aber heute haben wir sogar Paare, die zusammenleben, ohne dass sie überhaupt verheiratet sind.
Ich achte in meiner Forschung sehr auf kleine Anzeichen für Veränderung. Auf Details, die noch nicht statistisch fassbar sind, aber uns Hinweise geben, wohin sich eine Gesellschaft entwickelt.
Dazu gehören auch Frauen, die dauerhaft allein leben, allerdings nur in bestimmten, eher wohlhabenden Vierteln der Großstädte, die solche allein lebenden Frauen akzeptieren. In ländlichen Regionen Algeriens ist das noch nicht möglich. Diese Entwicklung haben wir auch in anderen arabischen Ländern.
"Der Wandel kommt von innen“
Für die marokkanische Soziologin Fatima Sadiqi haben sich die Frauenbewegungen in Nordafrika in den letzten zehn Jahren gewandelt. Heute kämpfen Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten gemeinsam für mehr Rechte, egal ob "säkulare“ oder "islamische“ Feministinnen. Mit ihr sprach Claudia Mende für Qantara.de
Zwischen Familienrecht und sozialer Realität
Trotzdem gibt es noch ein Familienrecht, das den Mann als Oberhaupt der Familie festschreibt. Führt das nicht zu großen Spannungen?
Oussedik: Ja, diese Veränderungen finden innerhalb einer Art juristischem Korsett statt, das Frauen immer noch stark einengt. Das Familienrecht spiegelt die soziale Realität nicht, die Widersprüche sind massiv. Das Familienrecht in Algerien sieht nach wie vor den Mann als Chef der Familie.
Die algerischen Frauenbewegungen - es gibt sehr viele Frauenorganisationen in Algerien, auch auf dem Land – haben zwar einige Veränderungen im Familienrecht durchsetzen können, wie zum Beispiel die Khol-Scheidungen.
Aber es gibt zwei Faktoren, die grundlegende Reformen bremsen. Das ist einmal der Widerspruch zwischen der sozialen Realität und dem Recht und die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt, speziell für Frauen.
Wenn es mehr Jobs für Frauen gäbe, würden die Veränderungen schneller kommen. Denn eigenes Einkommen ist der zentrale Faktor. Wenn Frauen erst einmal über eigenes Geld verfügen, dann verändern sich auch ihre Ansprüche in Beziehungen und ihre Möglichkeiten, ein autonomes Leben zu führen.
Frauen nutzen die neuen Möglichkeiten
Wenn sich die soziale Realität weiter verändert, könnte dann irgendwann das Juristische nur noch auf dem Papier stehen?
Oussedik: Genau, denn das Recht drückt ja bestimmte Machtverhältnisse in einer Gesellschaft aus. Ich bin Feministin und ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte in unserem Sinne weitergeht. Man hat das in der Bildung gesehen und das wird auch auf Arbeitsmarkt so sein. Wenn Frauen neue Möglichkeiten haben, dann nutzen sie sie auch.
Deswegen bin ich auch nicht gegen den Burkini, wozu ich von einer französischen Journalistin mal gefragt wurde. Für mich geht es darum, dass Frauen an den Strand gehen, das ist doch entscheidend, ob im Burkini oder im Bikini. Heute gehen Frauen in Scharen an den Strand, das ist doch eine gute Nachricht.
Wenn es Möglichkeiten gibt, dann ergreifen Frauen sie auch, das ist entscheidend. Das Patriarchat zeigt sich in unterschiedlichen Gesellschaften auf unterschiedliche Art, es sieht je nach sozioökonomischem Kontext unterschiedlich aus und Frauen nutzen ihre jeweiligen Möglichkeiten, um sich neue Freiräume zu schaffen.
Arabischer Feminismus hat einen eigenen Kontext
Wo liegt dann für Sie der Unterschied zwischen einem westlichen und einem arabischen Feminismus?
Oussedik: Feminismus ist universell, aber er zeigt sich unterschiedlich je nach dem Kontext, in dem er gelebt wird. Wir kämpfen anders als westliche Frauen, weil wir andere Bedingungen vorfinden. Das Patriarchat äußert sich bei uns anders, ich definiere mich als algerische Feministin, als eine Frau, die im sozialen und historischen Kontext Algeriens kämpft und in einem bestimmten juristischen, kulturellen und religiösen Wertesystem.
Verändern sich auch kulturelle Normen wie die Vorstellung, dass Frauen vor der Ehe keinen Sex haben dürfen?
Oussedik: Wenn eine Frau vor der Ehe Sex hatte, dann gibt es heute die Möglichkeit einer Hymenrekonstruktion und dieser medizinische Eingriff hat in der ganzen arabischen Welt enorm zugenommen. Auch das ist eine neue Möglichkeit für Frauen. Selbst wenn die Jungfräulichkeit noch ein Ideal vor der Eheschließung ist, lassen doch immer mehr Frauen solche Hymenrekonstruktionen machen.
Ich sehe das als eine Möglichkeit, sich von diesem Ideal freizumachen. Für die Männer bedeutet es, dass der Wert eines intakten Hymens nicht mehr so hochgehalten werden kann, wenn man weiß, dass es sich jederzeit medizinisch herstellen lässt.
Konservative Familienwerte neben Veränderung
Sie sehen also gleichzeitig konservative Familienwerte und Gesetze in der Gesellschaft, aber auf der anderen Seite massive Veränderungen.
Oussedik: Männer brauchen das Rechtssystem, das eine traditionelle Vorstellung von Familie mit dem Mann als Oberhaupt transportiert. Denn im Moment verlieren die Männer in unserer Gesellschaft an Rang. Was ihnen bleibt, ist die Vorstellung, in der Familie eine herausgehobene Stellung zu haben. Ein ganzes ideologisches System bestärkt sie in dieser Vorstellung, die soziale Realität sieht aber längst anders aus. Die Vorstellung der männlichen Dominanz befindet sich massiv in der Krise.
Im Grunde sind das Individualisierungsprozesse. In Ihrem Buch schreiben Sie, diese Entwicklung hätte auch mit zur Protestbewegung Hirak geführt. Wieso?
Oussedik: Während der Hirak-Proteste kamen Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zusammen, alle Altersgruppen und beide Geschlechter, Leute vom Dorf und Städter. Islamisten haben ihre Parolen neben Feministinnen gerufen, und das alles friedlich. Das war für mich ein Indikator dafür, dass die Algerierinnen und Algerier wissen, wie verschieden sie sind. Ihnen ist bewusst, dass sie Individuen mit unterschiedlichen politischen Ansichten sind und trotzdem ein gemeinsames Ziel sie verbindet. Das ist eine wichtige Entwicklung in unserem Land.
Die Fragen stellte Claudia Mende.
© Qantara.de 2023
Fatma Oussedik studierte Soziologie an der Universität Algier, promovierte an der Katholischen Universität Löwen in Belgien und erhielt dann den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Algier. Ihr jüngstes Buch « Avoir un ami puissant »: Enquête sur les familles urbaines Alger-Oran-Annaba", ist 2022 bei Editions Koukou in Algier erschienen.