Schwierige Geburt
Lange Zeit hat die AKP ihren Präsidenschaftskandidaten nicht bekannt gegeben. Seit der Verkündung der Kandidatur von Abdullah Gül drohen verschiedene Kräfte das Land in eine Krise zu stürzen. Ein Kommentar von Jürgen Gottschlich.
Türkei in der Krise. Putschdrohungen durch das Militär, Präsidentschaftswahlen die per Verfassungsgericht gestoppt werden, Millionen von Menschen auf der Straße, die Börse befindet sich im Sturz.
Nach Jahren politischer Stabilität, nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU, Wachstumssteigerungen von sieben Prozent im Durchschnitt der letzten vier Jahre, schien die Türkei das Chaos der 90er Jahre weit hinter sich gelassen zu haben, und nun das.
Woher kommt der plötzliche Rückfall in eine längst überwunden geglaubte Vergangenheit, warum mischt plötzlich das Militär wieder mit und warum gehen in zwei Großdemonstrationen in Ankara und Istanbul insgesamt mehrere Millionen Menschen gegen die doch so erfolgreiche Regierung von Ministerpräsident Erdogan auf die Straße?
Initialzündung für die gegenwärtige Krise war der Beginn der Wahl eines neuen Staatspräsidenten. Präsidentenwahlen in der Türkei waren auch in der Vergangenheit häufig Krisenauslöser, auch die Wahl des noch amtierenden Ahmet Necdet Sezer vor sieben Jahren war eine schwere Geburt.
Aber anders als Anfang 2000, wo eine Koalition sich in schwierigen Verhandlungen auf einen Kandidaten einigen musste, hatte die regierende AKP es dieses Mal scheinbar ganz leicht. Mit ihrer satten absoluten Mehrheit mussten sie nur abwarten, bis ihr Kandidat im dritten Wahlgang keine Zweidrittel der Stimmen, sondern nur noch eine einfache Mehrheit brauchte, um ihn dann schlicht und einfach mit ihren eigenen Stimmen zu wählen.
Dieser scheinbar problemlose Zugriff für die AKP auf das Amt des Staatspräsidenten erwies sich dann im Nachhinein als das Problem. Tayyip Erdogan, Abdullah Gül, Bülent Arinc und der Rest der AKP-Spitze glaubten, sie bräuchten keinen Kompromiss zu machen. Mehrheit ist schließlich Mehrheit.
Monatelang ignorierte die AKP die parlamentarische und außerparlamentarische Kritik an ihrem beabsichtigten Zugriff auf das Präsidentenamt.
Erst als auch die Drohkulisse aus dem Militär heftiger wurde, kamen Erdogan kurz vor Ende der Bewerbungsfrist dann doch Bedenken und er präsentierte der AKP-Spitze den amtierenden Verteidigungsminister Vecdi Gönül als einen Kandidaten, der zwar zur AKP gehört, dessen Ehefrau sich aber als eine der wenigen Ministergattinnen nicht bedeckt und der, auch schon aufgrund seines Amtes, für das Militär wahrscheinlich annehmbar gewesen wäre.
Doch damit kam Erdogan zu spät. Seine eigene Partei meuterte, und innerhalb der Gesellschaft war der Unmut über den beabsichtigten Durchmarsch der AKP mittlerweile so groß geworden, dass viele Leute einen Kandidaten der AKP, und zwar egal welchen, nicht mehr akzeptieren wollte.
Wie konnte es so weit kommen? Hat Erdogan den Widerstand einfach unterschätzt oder warum sonst war die AKP im Vorfeld zu keinem Kompromiss bereit. Sicher hat die AKP-Spitze das Ausmaß des Widerstandes unterschätzt, es gibt aber noch einen anderen Grund, warum Erdogan für sich und seine Partei neben dem Regierungschef und dem Parlamentspräsidenten auch das Amt des Staatspräsidenten sichern wollte, und dieser Grund liegt im Verhalten der EU.
Als die EU im Dezember 2006 nach einem schon bis dahin äußerst zähen Verhandlungsprozess beschloss, acht entscheidende Kapitel in den Beitrittgesprächen ganz auf Eis zu legen, bis die Türkei ihre Häfen und Flughäfen für die griechischen Zyprioten öffnet, fiel bei der AKP eine strategische Entscheidung: weg von der EU, hin zur eigenen Machtsicherung im eigenen Land.
Lange hatte Erdogan gehofft, in der Zukunft als derjenige Politiker seine Wahlen zu gewinnen, der der Türkei den Weg nach Europa freigemacht hat. Spätestens nach der Dezember-Entscheidung war ihm klar, dass er mit der EU nicht mehr punkten konnte, im Gegenteil die Ablehnung durch Europa ihm eher auf die Füße fallen würde.
Damit entfiel auch die Hoffnung, dass die traditionellen Spannungen zwischen den verfeindeten Lagern sich durch eine Annäherung an Europa und einen allmählichen Wohlstandszuwachs nach und nach überwinden ließen. Ab Anfang dieses Jahres ging es deshalb um Absicherung der Macht.
Der Staatspräsident hat in der Türkei zwar nicht die exekutive Macht, kann aber sowohl im Gesetzgebungsprozess als auch bei der Besetzung staatlicher Schlüsselstellungen sehr viel mehr ausrichten als in Deutschland. Das Amt des Präsidenten würde der AKP den Durchgriff auf die Bürokratie ermöglichen und damit die Absicherung der Macht auf lange Sicht. Genau aus diesem Grund will die Gegenseite unbedingt verhindern, dass die AKP ihre Positionen um den Staatspräsidenten komplettiert.
Obwohl ihre Gegner der AKP schon lange vorwerfen, sie würde nur ihre Seilschaft bedienen, ist dies doch erst in dem Maße realer geworden, wie die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft sich immer mehr verschlechterte. Das gilt für beide Seiten: Hätte das Militär eine EU-Mitgliedschaft noch als realistische Perspektive gesehen, wäre die Putschdrohung wohl unterblieben.
So aber sieht sich die türkische Politik und Gesellschaft wieder auf sich selbst zurückgeworfen und reagiert nach bekannten Mustern. Keinen Fußbreit Boden für den politischen Gegner, Kompromisse sollen die anderen machen. Es sieht nicht so aus, als würde sich in nächster Zukunft daran etwas verändern.
Jürgen Gottschlich
© Qantara.de 2007
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