Spiegel der nationalen Identität
Mit dem dramatischen Einzug ins Viertelfinale der EM hat die türkische Mannschaft die Fußballwelt beeindruckt. Aber wie viel Potenzial steckt wirklich im türkischen Fußball? Amin Farzanefar im Gespräch mit dem Sportjournalisten und Türkeikenner Tobias Schächter
Herr Schächter, wie war die Stimmung in Basel vor dem mit großer Spannung erwarteten Match zwischen der Schweiz und der Türkei? Immerhin gab es Befürchtungen, die schrecklichen Szenen wie bei dem Qualifikationsspiel vor zwei Jahren in Istanbul könnten sich wiederholen.
Tobias Schächter: Ich glaube beide Mannschaften haben ihre Lektion gelernt. Auch die Boulevardpresse war relativ verhalten, was gegenseitige Provokationen betrifft. Ich habe darüber mit einer türkischstämmigen schweizerischen Parlamentarierin gesprochen, die mir erzählt hat, dass sich die sehr liberale türkische Gemeinde in Basel für die Vorfälle damals sehr geschämt hat. Basel ist mit 18.000 Türken die größte türkische Gemeinde in der Schweiz, und das Viertel Kleinbasel hier kann man so als das "Kreuzberg der Schweiz" bezeichnen. Es gibt also einen anständigen Fanblock, wobei auch viele türkischstämmige Deutsche anreisen werden… Eine gewisse Befürchtung sieht die Großrätin allerdings darin, dass diese deutschstämmigen Nationalisten die Stimmung eventuell aufheizen könnten.
Wie konnte es damals eigentlich zu einer derartigen Eskalation kommen?
Schächter: Letztendlich hatte sich die Hetze der Boulevardzeitungen beider Länder verselbständigt. Zusätzlich hatte auch Fatih Terim, der türkische Trainer, die Stimmung durch ultranationalistische Parolen und krude Verschwörungstheorien angeheizt. Hinzu kommt, dass Spiele gegen europäische Mannschaften generell einen sehr hohen Stellenwert haben. Die Türkei Atatürks ist entstanden aus einem Verteidigungskrieg gegen die europäischen Mächte, und es gibt seitdem ein ambivalentes Verhältnis zu Europa: einerseits strebt man nach Integration, andererseits legt man viel Wert auf eine kulturelle Trennung.
Die Türkei – als WM-Dritter von 2002 – scheiterte an der Qualifikation für die EM 2004 in Portugal; wenn sie das Turnier dann auch noch ein zweites Mal verpasst hätten, wäre etwas zu viel gewesen. Das hat auch viel mit dem Rollenverständnis türkischer Männer zu tun, die sich immer auf Seiten der Sieger sehen. So etwas wie eine "ehrenhafte Niederlage" gibt es im türkischen Fußball nicht.
Fußball soll ja auch das Ideal der Völkerverständigung und des Austausches erfüllen. Wo steht denn die Türkei im internationalen Kontext – auch innerhalb Europas?
Schächter: Schon während des großen vaterländischen Befreiungskrieges unter Mustafa Kemal (Atatürk) gab es Spiele der türkischen Mannschaften gegen die Besatzungssoldaten der Engländer, in Izmir oder Istanbul, und diese Spiele wurden als großer Sieg der nationalen Identität gefeiert – man zeigte Europa, dass man auch in ihrem Sport mithalten kann. Das Verhältnis der Türken zu Europa ist sehr ambivalent, auch geprägt durch einen großen Minderwertigkeitskomplex. Seit Atatürk gesagt hat: "Wir wollen eine westliche Gesellschaft werden" – seit dem Bruch mit dem Osmanischen Reich – werden internationale Spiele immer auch als Ausdruck von nationaler Identität gesehen.
Fußball als Kristallisationskern, der eine zentrale Bedeutung für die Nation hat?
Schächter: Ein türkischer Soziologe von der Universität Ankara hat einmal gesagt: In keinem anderen Land war und ist der Fußball solch ein Kristallisationspunkt der nationalen Identität und Mentalität.
Die Depression nach der Niederlage, der Ruf nach Trainerwechsel, hysterisch aufschreiende Gazetten – rotiert all das in der Türkei noch mal etwas schneller als anderswo?
Schächter: Die Türkei ist ein Land der Extreme, ein Land in der ständigen Krise, und die Geschichten jagen einander in einem täglichen Rhythmus. Ein kleines Beispiel ist jetzt die Ausbootung von Hakan Sükür, den die türkische Presse schon seit Jahren extrem kritisiert. Dieselben Leute fragen jetzt: "Terim, warum hast du Hakan nicht mitgenommen?" Das sind die typischen Reflexe der Boulevardzeitungen.
Also immer nach vorne drängen, in die Aktualität, und nicht nach hinten schauen?
Schächter: Es hat auch sehr mit der Geschichtsaufarbeitung der Türkei zu tun, es gibt einige Tabuthemen, etwa den so genannten Genozid gegen die Armenier während des Ersten Weltkrieges. Die Türken schauen immer nach vorne, und nicht nach hinten.
Es heißt die Türkei öffnet sich langsam Richtung Europa. Gibt es eigentlich auch im Fußball einen Wandel?
Schächter: 2000 schafft Galatasaray Istanbul den ersten UEFA-Cup-Sieg einer türkischen Mannschaft, 2002 wird die Türkei WM-Dritter in Asien – da hat man sich schon in Augenhöhe mit den ganz Großen des Fußballs – Deutschland, Brasilien – gesehen. Der tiefe Fall hat dann zu einer ganz großen Verunsicherung geführt. Es gibt ein viele erstklassige türkische Spieler in ganz Europa, das könnte eine unheimliche Befruchtung für die Nationalmannschaft und die Clubs sein. Aber in der Presse sind diese Spieler nicht ganz vorne auf der Agenda: "Das sind noch gar keine richtigen Türken", heißt es. Da muss man sich noch mehr öffnen.
Immerhin spielen viele internationale Stars in einem der drei großen Istanbuler Vereine; auf der anderen Seite gilt: wer sich naturalisieren lässt, muss seinen Namen ändern.
Schächter: Bekanntestes Beispiel ist Marco Aurelio aus Rio de Janeiro. Der wurde 2006 als erster "Nichttürke" wie ihn die Nationalisten bezeichnen, in die Nationalelf berufen; es gab einen großen Aufschrei, und Journalisten haben kolportiert, er hätte das Mitsingen der Nationalhymne verweigert – nur weil er sie damals nicht mitsingen konnte. Jetzt heißt er "Mehmet"; auch das ist eine Konzession an die Nationalisten.
Was ist Ihrer Ansicht nach das Besondere an dem deutsch-türkischen Verhältnis?
Schächter: Mit 2,4 Millionen Türkischstämmigen und Türken in Deutschland ist das Verhältnis natürlich ein besonderes. Man hat die Deutschen außerdem immer als Lehrmeister gesehen, das hat mit Jupp Derwall angefangen, der nach Galatasaray ging, und danach, als Sepp Piontek Ende der Achtziger Jahre die Nationalmannschaft übernommen hat. Man spricht davon mit Hochachtung, und die Journalisten forderten jetzt, für 2008, einen zweiten Piontek, der noch einmal die Strukturen verbessert und mit internationalem Einfluss die Szene befruchtet.
Insgesamt: Ihre persönliche Prognose für den türkischen Fußball?
Schächter: Der türkische Fußball hat ein riesiges Potenzial an Talenten, und er hat auch die Möglichkeiten, wirklich dauerhaft auf höchstem Level zu spielen. Der Weg ist frei für große Tourniere und Erfolge.
Interview: Amin Farzanefar
© Qantara.de 2008
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