Wiederholt sich ein zweites Libyen?
Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, wo zwei der despotischsten arabischen Herrscher gestürzt wurden (Ben Ali in 32 Tagen, Mubarak in 18 Tagen), breiteten sich die arabischen Revolten immer weiter aus.
Zunächst war Libyen an der Reihe, wo sich der Aufstand zu einem bewaffneten Konflikt entwickelte, der bisher über 10.000 Tote gefordert hat, dann der Jemen, wo Präsident Ali Abdallah Saleh scheinbar am Rande einer Klippe bewegt und sich derzeit noch niemand findet, der ihn hinunter stößt, und schließlich Syrien, wo sich die Demonstrationen mittlerweile auf fast alle Provinzen ausgeweitet haben. Anhand dieser Revolten lassen sich zwei "Befreiungsmodelle" erkennen:
Fall 1: Das tunesische, ägyptische und jemenitische Modell
Dieses trat in Ägypten am deutlichsten zutage, wo der zentrale Platz der Hauptstadt besetzt wurde und sich täglich immer mehr Menschen den Demonstrationen beteiligten, bis der Präsident schließlich zum Abgang gezwungen wurde. In all diesen Fällen spielte die Armee insofern eine Schlüsselrolle, da sie sich weigerte, auf Demonstranten zu schießen und den Präsidenten zum Rücktritt zwang.
Dieses Modell kann als ideal gelten, weil es die wenigsten Todesopfer fordert. Denn die Revolutionen bewahrten ihren absolut friedlichen Charakter. Die Demonstrierenden waren diszipliniert genug, das Prinzip der Gewaltlosigkeit einzuhalten, um ihrer Revolution zum Erfolg zu verhelfen. Zudem verschaffte ihnen dies große moralische Sympathien von Seiten der Bürger ihres Landes wie auch bei der internationalen Gemeinschaft. Der internationale Druck auf den Präsidenten wuchs dadurch noch mehr.
Fall 2: Das libysche Modell
Man befreit einen Teil des Landes und rückt dann so weit wie möglich weiter vor. Libysche Anwälte und Richter hatten zunächst nach ägyptischem Vorbild friedlich vor dem Gericht in Bengazi protestiert. Der sofortige Einsatz von Waffengewalt durch libysche Sicherheitskräfte und die damit verbundene hohe Zahl von Todesopfern unter den Demonstranten führte schließlich dazu, dass die libysche Revolte sich schon bald von einem friedlichen in einen bewaffneten Aufstand verwandelte.
Und da die Truppen Gaddafis eine Politik der verbrannten Erde praktizierten, indem sie Flugzeuge und schwere Waffen einsetzten, blieb den Libyern nur die Option, sich an die internationale Gemeinschaft zu wenden, damit diese die libysche Tötungsmaschinerie stoppt. Dadurch ist Libyen in einen bewaffneten Konflikt geraten, der wohl noch einige Zeit andauern wird, bevor Gaddafi zu Fall gebracht werden kann und der Libyens Zukunft unvorhersehbar macht.
Aber welches dieser beiden Modelle lässt sich auf den Aufstand in Syrien übertragen? Zunächst muss festgestellt werden, dass die Demonstrationen in Syrien ihren absolut friedlichen Charakter bewahrt haben, obwohl so viele Menschen durch Waffengewalt und von Scharfschützen getötet wurden. Immer wenn Demonstranten versuchten, einen Platz in einer der Städte zu besetzen, wurde scharf auf sie geschossen und Dutzende von ihnen starben – so geschehen in der Omari-Moschee von Daraa, am Salibiye-Platz in Lattakia, in Duma und in Homs.
Bislang sind jedes Mal die Sicherheitskräfte sofort eingeschritten und haben die Proteste aufgelöst, jedoch – genau wie in Libyen auch – nicht mit Tränengas oder Gummigeschossen, sondern mit Schüssen, die gezielt auf Kopf und Oberkörper abgefeuert werden. Dies erklärt die große Zahl von Toten im Verlauf der Proteste. Bedeutet dies, dass der syrische Aufstand die gleiche Dimension wie in Libyen annehmen könnte? Wie werden sich die Dinge in Syrien entwickeln? Ich glaube, dass folgende drei Szenarien am wahrscheinlichsten sind:
Erstens: Das syrische Regime überwindet die Krise
Die Demonstrationen und Proteste werden repressiv und endgültig beendet. Dies könnte innerhalb eines Jahres oder in einem noch kürzeren Zeitraum geschehen, so wie es im Iran mit der Unterdrückung der "Grünen Revolution" im Jahre 2009 oder in Burma mit der Niederschlagung der "Safranrevolution" 2007 der Fall war.
Beide Regime, das religiöse in Iran und das militärische in Burma, konnten die Proteste beenden, indem sie blinde Gewalt gegen Demonstranten einsetzten und den gesamten Sicherheitsapparat inklusive Armee und Milizen mobilisierten.
Genau auf dieses Modell setzt heute das syrische Regime, indem es davon ausgeht, die Protestbewegung zerschlagen zu können, indem es äußerste Gewalt und scharfe Munition gegen Demonstranten einsetzt. Die Heckenschützentaktik führt zu Panik auf Seiten der Demonstrierenden und senkt allmählich die Zahl ihrer Anhänger.
In Städte, die der Kontrolle der Staatsmacht entgleiten, wie Daraa oder Banias, wird die Republikanergarde und die schwer bewaffnete "Vierte Division" der Armee geschickt, die dem Regime besonders loyal ergeben sind. Diese Städte werden komplett besetzt, Haftzentren werden mit allen jungen Männern gefüllt, derer man habhaft wird, und eine Politik der Folter zwingt die Protestbewegung in die Knie.
Zudem wurden militärische Checkpoints an den Zufahrten zu allen Städten errichtet und selbst einzelne Stadtviertel voneinander isoliert, um jede Bewegung und jeden Protest auf den Straßen zu verhindern. Wer sich nicht an das Ausgehverbot hält, wird getötet – so geschehen in Duma, Muadhamiya, Daria und anderen Vorstädten von Damaskus, sowie in Djasim, Tafas und Daraa im Süden des Landes, aber auch in Banias, Lattakia und anderswo. Dadurch konnten nicht mehr so viele Leute demonstrieren wie vorher, obwohl das syrische Regime bei weitem weniger Anhänger hat als das iranische.
Dies zeigte sich auch darin, dass der Aufstand in einem Gouvernorat begann, das vom Regime traditionell als loyal eingestuft wurde, und nicht in den kurdischen Regionen Qamishli oder Hassake, wo seit 2004 immer wieder gegen das Regime demonstriert wurde, und auch nicht in Hama oder Aleppo, wo die Bewegung der Muslimbrüder traditionell stark war.
Deshalb wird es wohl nur eine Zeitfrage sein, wann auch dort große Demonstrationen stattfinden werden, und in diesem Fall wird auch eine äußerste Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und die Armee das Regime nicht retten können, da die geografische Ausdehnung der Unruhen nicht mehr beherrschbar wäre.
Zweitens: Die Spaltung der syrischen Armee
Ein zweites Szenario könnte so aussehen, dass die Demonstrationen, wenn auch abgeschwächt, weitergehen, und die Sicherheitskräfte weiter mit Waffengewalt darauf antworten. Müsste die Armee in mehreren syrischen Städten zeitgleich vorgehen, könnte es verstärkt zu Abspaltungen kommen, wie es in Daraa, Rastan, Homs und Banias bereits der Fall gewesen ist, was von den Sicherheitskräften mit der Liquidierung der betroffenen Deserteure beantwortet wurde.
Dies zumindest berichten Augenzeugen und Soldaten und belegen Internetvideos. Eine dauerhafte Verwicklung der Armee in Einsätze gegen Demonstrationen würde also dazu führen, dass Abspaltungen insbesondere auf Ebene der höheren Ränge nur noch eine Frage der Zeit wären.
Möglicherweise würden letztlich führende Militärs von sich aus entscheiden, zivile Demonstranten zu schützen. Das wiederum brächte sie in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der gut bewaffneten und ausgebildeten "Vierten Division" und brächte die Armeeführung in eine schicksalhafte Situation, in der sie vor der Entscheidung stände, sich auf die Seite der Demonstranten zu stellen. Dies würde allerdings erfordern, dass sie sich zunächst der Loyalität der unteren Ränge versichern müssten und dass sich die Protestbewegung auf viele Städte und Regionen ausweitet und friedlich bleibt.
Drittens: Die ausländische Intervention
Schließlich wäre es denkbar, dass die Demonstrationen weitergehen und vom Sicherheitsapparat immer härter unterdrückt werden. Auch in diesem Fall könnte es zu einer Spaltung innerhalb der Armee kommen, jedoch ohne dass dies entscheidende Folgen hätte.
Wenn dann immer mehr Zivilisten getötet werden sollten, bestünde die Möglichkeit einer internationalen Intervention zu deren Schutz. Und obgleich dieses Szenario das schlechteste wäre und Syrien sich damit dem libyschen Modell anschlösse, ist es doch angesichts der steigenden Opferzahlen und der Gleichgültigkeit des syrischen Regimes gegenüber internationalen Verurteilungen und dem schärfer werdenden Ton seitens der USA und der EU denkbar.
Allgemein lässt sich festhalten, dass die drei beschriebenen Szenarien in etwa gleich wahrscheinlich sind. Welcher Fall letztlich eintreten wird, hängt in erster Linie von der Entwicklung in Syrien selbst ab, in zweiter Linie von der Haltung der Nachbarstaaten und der internationalen Staatengemeinschaft.
Radwan Ziadeh
© Qantara.de 2011
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Radwan Ziadeh ist Gründer und Direktor des "Damascus Center for Human Rights Studies". 2001 gehörte er zu den Aktivisten des "Damaszener Frühlings", die mehr Freiheitsrechte und ein Ende der Einparteienherrschaft forderten. Wegen seiner Menschrechtsaktivitäten erließ die syrische Justiz 2008 Haftbefehl gegen den Politikwissenschaftler, der seit 2007 in Washington lehrt und forscht.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de