Orient und Okzident im Gleichgewicht
Beginnen wir mit Ihrem neuen Projekt, der Vertonung des Johannes-Evangeliums auf Arabisch. Sie haben dieses Oratorium mit dem Chor des Konservatoriums von Damaskus und einem Ensemble für traditionelle Musik aus Damaskus sowie mit dem Orchester des Jeunes de la Méditerranée aus Frankreich unter Leitung von Alain Joutard realisiert. Die Uraufführung fand im Mai 2009 im Opernhaus von Damaskus statt; es folgten Aufführungen in Fez, Marseille und Nizza. Warum haben Sie dieses Werk in arabischer Sprache vertont?
Abed Azrié: Ich wollte eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines Menschen, der im Orient geboren ist und heute im Westen lebt. Er erinnert sich an seine Kindheit. Ich gehe mit dieser Arbeit zurück in meine Kindheit, aber ich reise auch in Richtung Westen. Ich arbeite an Texten, die die Kultur des Vorderen Orients bestimmt haben. Auch das Johannes-Evangelium gehört dazu. Jesus, zugleich Mensch und Gott, ist hervorgegangen aus dem Fruchtbarkeitsglauben der Sumerer, der Babylonier, der Kanaanäer und der Phönizier. Mit seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung nimmt er ein sehr altes Thema wieder auf und verknüpft damit eine Jahrtausende alte Mythologie, die im gesamten Mittelmeerraum zu Hause ist. Sie stellt damit einen Teil des gemeinsamen Fundaments dieses kulturellen Raumes dar.
Europäische Komponisten haben dieses Thema bereits umgesetzt, wie Bach und Händel. Was hat Sie an dem Evangelium nach Johannes interessiert?
Abed Azrié: Das Johannes-Evangelium unterscheidet sich von den anderen drei Evangelien. Matthäus, Markus und Lukas haben etwas gemeinsam. Sie sind nur Augenzeugen. Johannes aber tritt hier als Schriftsteller auf, der ein Drama schreibt, wie man es aus dem alten Griechenland kennt. Es wurde mit der Strenge einer klassischen Tragödie entwickelt. Er beginnt mit den Worten: Am Anfang war das Wort. Jesus agiert hier wie ein moderner Mensch, der offen und weltlich ist. Er handelt ohne ideologische Vorbehalte und ist rebellisch. Seine Worte waren: Ich bin nicht gekommen um zu regieren, sondern um zu erlösen. Ich selbst bin nicht gläubig. Aber ich hatte das Bedürfnis, diesen Text auf die Bühne zu bringen. Für mich sind die Figuren in diesem Evangelium normale Menschen. Ich sehe sie auch heute vor mir in den Gesichtern der Menschen im Orient. Ich habe moderne Musik geschrieben, als ob die Geschichte und die Menschen aus dem Evangelium heute leben würden.
Orientalische Melodien und Rhythmen gehen bei dieser Komposition mit der europäischen Musik eine Verbindung ein. Das Besondere scheint mir hier, dass Sie traditionelle arabische maqāmāt-Formen und Tonsysteme selbst für große Orchester benutzt haben. Gibt es für Sie keine Grenze in der Musik?
Abed Azrié: Seit 1974 hören meine Ohren das Orchester immer parallel orientalisch und okzidentalisch. Die beiden unterschiedlichen Hörwelten werden durch die Komposition verbunden wie in einer Familie. Aber jedes Mitglied hat seine Eigenständigkeit und Persönlichkeit bewahrt. Der westliche Musiker kann nicht so improvisieren wie der östliche, und der östliche kann nicht klassisch spielen wie der westliche. Das verleiht der Musik eine neue Dimension.
Immer wieder wählen Sie für Ihre Kompositionen außergewöhnliche Texte. Inzwischen umfasst Ihr Oeuvre eine Vielzahl an Vertonungen von Texten aus dem alten wie dem neuen Orient: angefangen beim Gilgamesch-Epos bis hin zu zeitgenössischer arabischer Poesie. Auffallend bei all diesen Texten ist, dass sie wichtige Fragen aus dem Leben der Menschen aufwerfen, die sich bis heute kaum verändert haben: beispielsweise die Frage nach der Freiheit, dem Tod, der Liebe und der Unbeständigkeit des Lebens. Texte, die das erstarrte Leben ablehnen. Warum?
Abed Azrié: Seit meiner Kindheit bevorzuge ich die Lyrik, weil ich die Poesie und vor allem die poetische Sprache als ein Sammelbecken für das menschliche Gedächtnis betrachte. Er ist ein ästhetischer Resonanzraum, und es enthält etwas Melodisches. Ich habe immer an einem Material gearbeitet, das dieses Sammelbecken durch die verschiedenen Epochen hindurch zusammenfasst. Mir ging es auch immer darum, Poesie und Musik miteinander vermischen. Im Buch waren die Worte gefangen. Durch die Musik wollte ich sie befreien. Ich mag Texte, die offen über die Freiheit des Menschen, über die Freiheit des Glaubens und seiner Existenz in dieser Welt sprechen. Diese große Freiheit bedeutet, dass der Mensch als Individuum denkt und nicht als Gesellschaft oder Sippe.
Sie leben seit 1967 in Paris. Die Zeit in Frankreich ist länger als die Zeit, die Sie in Syrien verbracht habe. Wie würden Sie heute Ihre Identität definieren?
Abed Azrié: Ich bin im Orient geboren und lebe seit vielen Jahren im Okzident. Beide Kulturen berühren mich. Sie bilden in mir ein Gleichgewicht. Es gibt viele Menschen, die anders leben. Vielleicht sind sie schizophren. Die Vermischung aus deiner Kindheit und dem, was du später im Ausland dazubekommen hast, ist möglich. Orient und Okzident können in mir zusammenleben ohne Probleme und bilden einen Körper, einen biologischen, natürlichen Körper, der mein Leben einfach verwirklicht. Durch meine Geburt im Nahen Osten erhielt ich eine orientalische Sensibilität. Später gewann ich durch mein Leben in Europa eine okzidentale Sensibilität hinzu. Beide ergänzen sich heute. Jede Sprache und jede Kultur ist eine Welt für sich. Wenn man verschiedene Sprachen spricht und in verschiedenen Kulturen lebt, ist das eine Bereicherung.
Für Sie ist die Zusammenarbeit und das Verschmelzen verschiedener Musiken aus unterschiedlichen Kulturen eine wichtige Erfahrung. Mit ihrer CD Suerte, die Sie mit spanischen, arabischen und französischen Musikern realisierten, haben Sie ist eine sehr persönliche Annäherung an die arabo-andalusischen Zivilisationen umgesetzt. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Gedichte aus Al Andalus zu komponieren?
Abed Azrié: Die Texte sind neunhundert Jahre alt und könnten ein Beispiel für heutige Fusionen und Berührungen verschiedener Musiken und Kulturen sein. Die andalusische Dichtung, die andalusische Kunst überhaupt, dieses größte Experiment in der Geschichte der Völker, wo Religionen, Musiken und Kulturen sich miteinander vermischten, ist beispielhaft für mich, denn ich liebe die Vermischung und die Berührung zwischen den Kulturen. Wenn man die anderen Kulturen liebt – und Liebe heißt hier, das Wissen, die Poesie, die Musik und die Kultur der anderen kennen zu lernen –, dann ist eine Verbindung möglich. Diese Verbindung, dieses Verschmelzen verleiht der Arbeit grenzenlose Möglichkeiten.
Interview: Suleman Taufiq
© Qantara.de 2010