Buchtipp: Der Koran als Text der Spätantike
Die Zeit ihres höchsten Ruhms liegt für die deutsche Islamwissenschaft rund hundert Jahre zurück. Ignaz Goldziher und Theodor Nöldeke legten damals Studien zum frühen Islam, zum Koran und zur Entstehung des islamischen Rechts vor, an denen heute noch kein Weg vorbeiführt.
Seit einigen Jahren wird von ganz verschiedener Seite wieder an jene Blütezeit der Frühislam-Forschung angeknüpft, unter anderem an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Unter dem programmatischen Titel "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang" legt die Arabistin Angelika Neuwirth die ersten Ergebnisse der von ihr an der Akademie geleiteten Gruppe von junge n Koranforschern vor.
Eingebettet im kulturellen und religiösen Umfeld
Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Er liest sich dann so, wie ihn die Zeitgenossen verstanden haben müssen: Zwar als Zeugnis intensiver theologischer Auseinandersetzungen auf der arabischen Halbinsel, aber in einem kulturellen und religiösen Umfeld, wie es auch den übrigen Mittelmeerraum im siebten Jahrhundert prägte – und damit letztlich die europäischen Glaubensvorstellungen bis heute:
"Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskursen hervorgegangen ist und sich selbst in jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat (…) ist er selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa."
Diese Lesart taugt wohlgemerkt nur zu einem kleinen Teil dazu, den späteren Islam oder auch nur den heutigen Blick der Muslime auf den Koran zu erklären. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben – von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler.
Lange Zeit ging man davon aus, dass der Islam gleichsam aus dem Nichts entstanden sei, in allenfalls schwacher Reibung mit nicht näher bestimmbaren jüdisch-christlichen, vor allem aber alt-arabisch heidnischen Traditionen.
Der Austausch mit dem kulturellen Umfeld war jedoch in Wahrheit sehr intensiv und lässt sich auch zu weiten Teilen nachzeichnen, sofern man den Koran nicht als das fertige Buch liest, als das er uns heute begegnet, sondern vielmehr als Mitschrift der Entstehung einer neuen religiösen Gemeinde.
"Nicht ein Autor ist hinter dem Text anzunehmen, sondern eine sich über die gesamte Wirkungszeit des Verkünders hinziehende gemeindliche Diskussion", fasst Neuwirth den Paradigmenwechsel zusammen.
Dialogisches Prinzip
Anstelle der herkömmlichen Annahme, dass es auf der einen Seite den Verkünder gab, der nach Art eines Autors, entweder von sich aus oder von göttlicher Inspiration geleitet, seine Zuhörer oder Leser mit dem Text konfrontiert, schlägt Neuwirth ein Alternativmodell vor, dass sich am Drama orientiert – ein dialogisches Prinzip also, in dem auch Gegenstimmen vernehmbar werden, die wiederum Reaktionen in Form neuer Koranverse hervorriefen.
Wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist "aus der einzig vernehmbaren Sprecherrede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird."
Ein Beispiel dafür bietet die Suren-Einleitung, deren Formel "des Barmherzigen und des Erbarmers" in westlichen Ohren redundant klingt, wie die Illustration des Klischees vom blumigen Stil der Araber. Aber das ist falsch. Tatsächlich handelt es sich um eine Formulierung in Parallelität – und zugleich in scharfer Abgrenzung – zur bekannten christlichen Anrufung "Im Namen des Vaters, des Sohnes und den Heiligen Geistes".
Seit 2007 leitet Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin, das Projekt "Corpus Coranicum", das den Koran mit der historisch-kritischen Methode erforscht. Die Basmala ist also weder schlechte Poesie, noch billige Kopie einer christlichen Formel, sondern sie verkündet eine theologische Neuerung: Mit ihr wird die Vorstellung von der Trinität ebenso aufgegeben wie die von Christus als Gottessohn.
Gleichsam nebenbei zeigt Angelika Neuwirth, wie eine intelligente, aus fundiertem Wissen statt aus Vorurteilen geschöpfte "Islamkritik" – verstanden als Kritik an islamischen Dogmen und Vorurteilen – möglich ist.
Die in diesem Buch vorgelegte Zwischenbilanz der Corpus-Coranicum Forschungen offenbart aber auch, wo die Grenzen und Probleme eines solchen Projekts liegen. Man kann zum Beispiel davon ausgehen, dass die islamische Orthodoxie mit diesen Forschungen wenig wird anfangen können.
Urschrift und göttliches "Buch"
Um in den Dialog auch mit gläubigen Muslimen zu treten, müsste viel stärker aufgezeigt werden, wie sich das orthodoxe muslimische Koranverständnis aus den offenen, dialogischen Anfängen des Korans entwickelt und dann dogmatisch verfestigt hat. Im vorliegenden Werk finden sich immerhin einige Beispiele dafür, etwa die Erklärung des Wortes kitâb, zu Deutsch 'Schrift' oder 'Buch'.
Während zur Lebenszeit Mohammeds, angesichts der Herausbildung der neuen Gemeinde, mit dem arabischen Wort kitâb eine Urschrift im Himmel gemeint war und keineswegs der damals ja erst im Entstehen begriffene Koran, schien sich das Wort kitâb für die nachfolgenden Muslime auf den Koran zu beziehen, der damit gemäß dem späteren kanonischen Verständnis selbst zur himmlischen Urschrift wurde, zu einem immer schon fertig vorliegenden, göttlichen 'Buch', dessen Inhalt von Mohammed nur offenbart zu werden brauchte –zwar gemessen an Mohammeds eigener Sicht auf den Koran eine "Verlesung", die aber aus Sicht der späteren Muslime, für die der Koran fertig vorlag, alles andere als irrational ist.
Von einem solchen Brückenschlag zwischen der orthodoxen Deutung und der neuen Forschung bräuchten wir mehr. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Islam muss das Verständnis dafür wachsen, dass eine Religion nicht nur aus historischen Fakten und nachprüfbaren Texten besteht, obschon sich vor allem der Fundamentalismus gut protestantisch immer darauf beruft, sondern eben auch aus Vorstellungen, Phantasien und Wünschen besteht.
Das scheint umso wichtiger, als alle Forschungen zum Frühislam aufgrund der problematischen Quellenlage hochspekulativ sind – die wenigen ältesten Schriftstücke entstanden erst ein halbes Jahrhundert nach Mohammeds Tod (632), die meisten Quellen sind erst hundert Jahre später sicher bezeugt. Am Ende ist eben doch vieles eine Glaubensfrage, so schmerzlich dies aus Sicht des Philologen auch sein mag.
Die Ergebnisse von Neuwirths neuer Koranforschung sind spannend, aber dem nicht vorgebildeten Publikum macht es Neuwirth nicht leicht. Gewiss, alle Koranstellen sind übersetzt, die Forschungslage und die Kontexte sind stets, wenngleich stets knapp, erläutert. Doch die mikroskopischen Erörterungen und Interpretationen kleinster Texteinheiten kann nur ein Fachmann ernsthaft würdigen. So großartig sich die deutsche Islamwissenschaft daher inzwischen wieder präsentiert, im Hinblick auf die Vermittlung ihrer Ergebnisse bleibt noch einiges zu tun.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2011
Angelika Neuwirth: DVerlag der Weltreligionen, Berlin 2010. 859 S.