Post-revolutionäres Patchwork
Während des Arabischen Frühlings schufen Satellitenfernsehen, soziale Medien und Mobiltelefone eine "arabische Öffentlichkeit", welche als Sprachrohr für die Erhebungen fungierte, die die Despoten letztlich zu Fall brachten oder zumindestens Reformprozesse einleiteten. Tatsächlich gab es in den Ländern, in denen die Aufstände von Erfolg gekrönt waren, wenig später auch freie Wahlen.
Dennoch räumen die britisch-libanesische Journalistin Lin Nouihed und der Nahostexperte Alex Warren ein, dass die Nachwirkungen der Aufstände sowie der Wettbewerb um die politische Deutungshoheit in den arabischen Staaten von Land zu Land variieren.
Obwohl jede Nation künftig mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wird - zum Beispiel was die Rolle des Islam in Staat und Gesellschaft angeht, die Gestaltung der Demokratie und die Sanierung der maroden Wirtschaft -, so werden diese Prozesse die Ausformung sehr unterschiedlicher Staatsordnungen zur Folge haben. Doch wie auch immer diese Entwicklung letztlich verlaufen mag: es wird sich mit Sicherheit nicht um Kopien liberaler westlicher Demokratien handeln.
Unterschiedliche regionale Ausgangsbedingungen
In Tunesien gibt es eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich aus NGOs, Handelsorganisationen und Menschen- und Frauenrechtsgruppen zusammensetzt, die einen beachtlichen Widerstand gegen den überraschenden Wahlsieger, die "Ennahda", mobilisieren konnte. Diese moderat-islamistische Bewegung, die Frauenrechte und eine säkulare Rechtsprechung anerkennt, ist tatsächlich einzigartig für Tunesien.
Ihr gemäßigtes Auftreten hat sie jedoch zur Zielscheibe für Salafisten gemacht, die seit der "Jasminrevolution" wieder aktiv geworden sind. Es könnte sein, dass sich moderne Säkulare und moderate Islamisten doch noch einig werden und verbünden, um die radikalen Salafisten in Schach zu halten und um ein demokratisches Modell für andere Länder der Region zu entwerfen.
Die Situation in Ägypten hingegen gestaltet sich völlig anders. Dort ist der Einfluss des Islam auf die Politik besonders signifikant. Nach Ansicht der beiden Autoren wird nicht die Muslimbruderschaft das größte Hindernis zur Demokratisierung Ägyptens sein, vielmehr jedoch das Militär, das immer noch im Hintergrund lauert.
Der Militärkomplex war "fest in der verkümmerten Wirtschaft und dem politischen System verankert, eine Institution, die die Proteste ersticken wollte ", so Noueihed und Warren. "Es scheint daher paradox, den Streitkräften die Aufsicht über tief greifende politische, ökonomische und soziale Reformen anzuvertrauen, die – sollten sie erfolgreich sein – letztlich ihre eigenen Machtbefugnisse beschneiden würden."
In Bahrain ist es nicht die religiöse Zugehörigkeit, die die 1,2 Millionen Einwohner spaltet, jedoch gibt es eine Bruchlinie zwischen Sunniten und Schiiten.
Und Libyen wird gewiss in den kommenden Jahren noch mit dem Erbe Gaddafis beschäftigt sein. Das Land ist ein Flickenteppich aus verschiedenen ethnischen Gruppen, Regionen und Stämmen, die wiederum in sich gespalten und zerstritten sind. Darüber hinaus existieren in dem nordafrikanischen Land viele Waffen, die ein Bürgerkriegsszenario über mehrere Jahre hinweg aufrechterhalten könnten. "Ein politisches System, das nicht in der Lage ist, die Öl-Ressourcen gerechter und effizienter zu verteilen wird nicht lange Bestand haben", prophezeien daher Noueihed und Warren.
Gründe für die Popularität der Islamisten
Warum hatten islamistische Parteien bei den Wahlen bisher solch einen großen Erfolg, obwohl sie während der Revolutionen doch kaum in Erscheinung traten? Zum einen verfügen islamistische Organisationen, wie die ägyptische Muslimbruderschaft, über eine historisch gewachsene organisatorische und politische Struktur – im Gegensatz zu den Revolutionären des 25. Januar in Ägypten, die quasi erst mit dem Beginn des Arabischen Frühlings geboren wurden. Zum anderen konnten die Islamisten frühere Verbote dadurch umgehen, indem sie ihre Botschaften in den Moscheen verbreiteten.
Ebenso wurden ihre Visionen von einer gerechten Gesellschaft durch ihre soziale Arbeit in den islamischen Gemeinden in die Tat umgesetzt. Der Staat versagte im öffentlichen Dienst und bei der sozialen Fürsorge. Und – anders als bei den säkularen Revolutionären – fanden die Islamisten auch stets bei inländischen und ausländischen Geldgebern Unterstützung.
Der Bedeutungszuwachs des politischen Islam muss jedoch nicht automatisch weniger Demokratie zur Folge haben, so die Autoren. Das islamistische Spektrum erstreckt sich von Ennahda, eine der ersten islamistischen Bewegungen, die sich zur Demokratie bekannte, bis hin zu den extremen Gruppierungen, wie den Salafisten, die tatsächlich mit repressiven Mitteln den Staat und die Gesellschaft beherrschen wollen. "Beobachter sollten zwischen den radikalen und den moderaten Kräften unterscheiden, zwischen Feinden der Demokratie und wirklichen Demokraten, zwischen Gewalttätigen und Friedvollen", argumentieren Lin Noueihed und Alex Warren.
Demokratische und ökonomische Herausforderungen
Politisch an der Macht müssen sich die Islamisten erst einmal den gewaltigen Herausforderungen stellen: die Eindämmung der Jugendarbeitslosigkeit und Korruption sowie die Belebung der maroden Wirtschaft. Der Umfang dieser Aufgaben wird sie zu Kompromissen und Kooperationen zwingen.
"Diese Aufgaben können jedoch nur gemeinsam mit den islamistischen Parteien in den postrevolutionären Ländern wie Tunesien oder Ägypten, die dort als Repräsentanten gewählt wurden, gelöst werden. Sie müssen dann auch mit den gleichen Fehlern und derselben Kritik konfrontiert werden, wie jede andere Regierung auch", schreiben die Autoren.
Für die Staaten, in denen Wahlen abgehalten wurden, besteht die nächste Herausforderung in der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Lin Noueihed und Alex Warren weisen darauf hin, dass – im Gegensatz zur Türkei – nur wenige arabische Staaten komplett säkulare Verfassungen besaßen. Die Rolle der Religion in der Verfassung kann daher nur ein Indikator dafür sein, wie diese Gesellschaften später aussehen werden. Elementar ist die Verankerung der Minderheitenrechte, die Pressefreiheit, die Dezentralisierung, die Freiheit der Justiz, die Gewaltenteilung, die Beschränkungen des Sicherheitsapparats.
Die postrevolutionären Demokratien in der Region werden zweifelsohne nicht die Form wie in Frankreich und Deutschland annehmen – oder auch in der Türkei. Selbst im fortgeschrittenen Tunesien ist das Demokratiekonzept von "Ennahda" mit spirituellen und kulturellen Werten des Islam verknüpft. "Es ist daher unrealistisch", schlussfolgern die Autoren, "von den arabischen Ländern innerhalb eines Jahres die Trennung von Religion und Staat zu erwarten, was in den europäischen Staaten Jahrhunderte dauerte."
Ebenso gibt es in den arabischen Staaten nichts Vergleichbares wie einen Marshall-Plan, von dem das Nachkriegseuropa profitierte, oder eine Europäische Union, die den Ostblockstaaten nach deren Zusammenbruch unter die Arme griff. Dies alles sind im übrigen gute Gründe für die Europäer, den arabischen Ländern zu helfen, ohne ihnen dabei politische Vorschriften zu erteilen.
Paul Hockenos
© Qantara.de 2012
Übersetzt aus dem Englischen von Fabian Schmidmeier
Lin Noueihed und Alex Warren:"The Battle for the Arab Spring: Revolution, Counter-Revolution and the Making of a New Era", Yale University Press 2012, 304 Seiten
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de