Elogie auf eine verlorene Zeit
Frau Alem, Sie haben als erste Frau den internationalen Preis für arabische Fiktion gewonnen, den Arab Booker Prize. Wie reagierte man in Saudi-Arabien darauf?
Raja Alem: Die Leute waren glücklich, als ich ihn bekam. Nicht nur dieser Booker Preis, meine ganze Karriere wird in Saudi-Arabien anerkannt. Als ich auf die Shortlist kam, wurde erwartet, dass ich den Preis bekomme. Er hat eine kulturelle Arena in der arabischen Welt geschaffen und erweckt Aufmerksamkeit für die Romane auf der Liste. Die Leute lesen diese Bücher. Und der Preis garantiert eine Übersetzung, zumindest auf Englisch.
In Ihrem Buch geht es auch um Drogen, Prostitution und Waffenschiebereien. Werden Sie als kritische Stimme in Ihrer Heimat betrachtet?
Alem: Nicht unbedingt. Ich werfe Licht auf Aspekte unserer Werte und Lebensweise, die einzigartig sind, wie ich finde. Und doch sind sie zutiefst menschlich.
Was ist das Einzigartige?
Alem: Mekka als religiöser Ort – wo das Menschliche nicht existiert, weil es eine Gottesstadt ist. Aber trotz allem ist es eine Stadt der Menschen, mit menschlichem Elend und den alltäglichen Kämpfen, sich das Leben zu erobern. Das versuchen meine Bücher zu sagen.
Aischa, die Hauptfigur, schreibt Liebesbriefe an einen Deutschen. Warum?
Alem: Weil es ihr Schicksal war. Sie wurde Opfer eines Verkehrsunfalls, ihre ganze Familie kommt ums Leben, sie selbst hat eine gebrochene Hüfte. Gute Freunde helfen ihr, tragen Geld zusammen, damit sie nach Deutschland gehen kann, weil da die medizinische Behandlung sehr gut ist. Also kommt sie hierher, wird von diesem Mann behandelt und verliebt sich in ihn.
"Das Halsband der Taube" besteht aus vielen Emails der Heldin Aischa an den deutschen Geliebten. Ihre Sprache ist ungeschönt. Ist das nicht ein Widerspruch?
Alem: Mich erschreckt die ungeschönte Sprache nicht – das geschieht doch täglich in Millionen Emails.
Es spielt alles heute, es sind moderne Figuren. Sie sind aufgewachsen in einer Gesellschaft, geprägt vom Denken der 1950er und 1960er Jahre, aber konfrontiert mit den Entwicklungen des 21. Jahrhunderts, den Kommunikationsmitteln und Medien, die zur Verfügung standen.
Vor drastischen Szenen mit Verbrechen und Korruption schrecken Sie auch nicht zurück...
Alem: Nicht Korruption, sondern Ausbeutung der Arbeiter durch die Investments der großen Unternehmen – wie überall auf der Welt, davon wird Mekka nicht verschont. Die ganze Welt ist Eigentum dieser großen Unternehmen, die immer mehr Geld machen wollen.
Steht das nicht im Widerspruch zur heiligen Pilgerstadt?
Alem: Geld ist nur die eine Seite, die andere ist diese Magie, die Energie, die durch die Pilgermassen verstärkt wird. Das läuft alles parallel. Es ist unglaublich! Auch während des Ramadans. Man spürt diese geballte kommerzielle Macht, und in dessen Zentrum dreht sich die spirituelle Kraft. Und man weiß nicht, welche Kraft am Ende gewinnen wird.
Aber offensichtlich tragen Sie Vieles vom alten Mekka in sich...
Alem: Ja, als hätte es Besitz von mir ergriffen. Wer bin ich sonst noch? Wo komme ich her? Ich denke, die erste Stadt, wo man gelebt hat, hinterlässt eine dauerhafte Spur auf dem Charakter. Wo man auch hingeht, geht man immer um diesen selben Ort herum.
Wenn ich die Veränderungen schon nicht aufhalten kann, so kann ich es zumindest in meinen Büchern bewahren.
So wie Aischa, wenn sie nach der verlorenen Zeit sucht und zugleich das Buch von Marcel Proust "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"?
Alem: Frauen durften in Saudi-Arabien keine Bücher besitzen. Deshalb versucht sie, es heimlich zu bekommen. Denn wir wissen nicht, was diese verlorene Zeit ist, wann ist sie passiert? War sie in unserer Vergangenheit? Oder wird sie in unserer Zukunft liegen? Ist es die Zeit, bevor wir auf diese Erde geboren wurden, die wir verloren haben? Wir versuchen, sie zu finden. Ich denke, dieses Gefühl des Verlustes treibt uns an, damit wir es einfangen - in der Liebe, in unserem Leben, in unserer Arbeit.
Sie sagen, Frauen durften keine Bücher haben. Wie steht es jetzt um die Rechte der Frauen?
Alem: Vom Gesetz her haben sie dieselben Rechte wie die Männer. Ich höre auch immer, dass Frauen überall für dieselbe Arbeit weniger Lohn kriegen als Männer: Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber in Saudi-Arabien bekommen die Frauen, wenn sie den gleichen Job machen wie Männer, auch das gleiche Gehalt. Der einzige Unterschied im Islam ist, dass die Frau das Recht hat, ihre eigene Arbeit und Geschäfte zu machen und dass Männer sich nicht einmischen sollten. Die Frauen behalten ihr Gehalt, sie müssen es nicht für die Familie ausgeben.
Wenn sie einen saudischen Mann heiraten, und sie arbeiten beide, muss er für Haus und Unterhalt aufkommen. Die Frau muss ihr Geld nicht dafür ausgeben. Es ist günstig für sie. Sie empfinden das als eine Qualität.
Heißt das, dass unser Blick auf Ihre Welt ein falscher, ein verzerrter Blick ist?
Alem: Ja, wenn Sie saudische Frauen fragen, sagen sie: Ich will keine Veränderung, ich bin glücklich so. Aber die Welt außen bezeichnet das als düster, grauenhaft, krankhaft. Sie sagen: Oh, die Frauen dürfen nicht Autofahren! Vielleicht sind die Frauen aber zufrieden, dass sie Fahrer haben.
Zurück zum Buch: Die Gasse, deren Schöpfungsmythos Sie in dem Roman beschreiben, gibt es nicht mehr. Sie ist wohl in den 1980er Jahren beseitigt worden. In Ihren ersten Lebensjahren haben Sie noch das alte Mekka kennengelernt und der Gesang dieser Gasse scheint wie ein Nachruf einer Erinnerung an Lieder, die es einmal gab.
Alem: Alles was ich über Mekka weiß, haben mein Vater und meine Mutter mir erzählt. Es ist mündliche Überlieferung. Das sind meine Quellen. Alles was es einmal gab, ist verschwunden. Die Straße gibt es nicht mehr. Aber auch das Haus meines Großvaters.
Als ich anfing, das Buch zu schreiben, stand es noch, es klebte aber ein rotes Zeichen drauf – der Hinweis, dass es abgerissen würde. Es war ein schönes Haus auf einem Berg und ich war schockiert, als ich das sah. Als ich fertig war mit dem Schreiben dieses Buches, war nicht nur das Haus verschwunden, sondern auch der ganze Berg.
Mekka verändert sich demnach sehr?
Alem: Genauso wie sich auch andere Orte auf der Welt verändern. Die Frage ist nur, ob man sich gegen diese Veränderung stellen soll. Es bildet sich eine andere Identität heraus, nämlich die einer Stadt mit Hochhäusern aus Glas und Stahl. Das alte Mekka lebt nur noch in meinem Buch weiter, deswegen liegt mir das Buch auch so sehr am Herzen.
Machen Sie diese Veränderungen nicht doch traurig?
Alem: Natürlich! "Das Halsband der Taube" ist eine Elogie, ich schrieb es aus Trauer, weil ich zornig auf diese Veränderungen bin. Zum Ende des Buches hin war die ganze Szenerie zerstört, und ich war noch zorniger. Aber plötzlich spürte ich eine große Ruhe: Wer sind wir, dass wir diese Abläufe der Veränderungen aufhalten? Lass es passieren, vielleicht führt es ja wohin.
Und ich sagte mir: Das ist das letzte Buch, das ich schreibe, es ist vorbei. Aber als ich es nach drei Monaten beendet hatte, fing ich an, ein neues zu schreiben. Und es ist wieder über das alte Mekka. Es ist wie eine Krankheit.
Interview: Irmgard Berner
© Qantara.de 2011
Raja Alem wurde 1970 in Mekka, Saudi Arabien, geboren, studierte Anglistik an der King-Abdulaziz-Universität in Jiddah und veröffentlichte im Feuilleton der Zeitung "Riyadh". Sie lebt heute in Paris. Raja Alems preisgekrönter Roman "Das Halsband der Taube" erscheint im Herbst nächsten Jahres im Unionsverlag in deutscher Sprache.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de