Ein Sturm der Entrüstung
Demonstrationen vor der französischen Botschaft, Boykottaufrufe für französische Waren – die Entrüstung über den Gesetzentwurf in Frankreich, nach der die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe gestellt werden soll, ist groß. Ömer Erzeren berichtet aus der Türkei.
In der Türkei trifft man dieser Tage auf einzelne Läden, in deren Schaufenster eine Ankündigung zu lesen ist: "Wir boykottieren französische Waren."
Der Protest gegen Frankreich kam auf, nachdem am 12. Oktober das französische Parlament eine Gesetzesvorlage annahm, die die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs unter Strafe stellt. Bis zu einem Jahr Gefängnis und 45.000 Euro Bußgeld sieht das Gesetz vor.
Ein Sturm der Entrüstung ging durch die Türkei, nachdem bekannt wurde, dass die Gesetzesvorlage die Nationalversammlung passierte. "Freiheit, Gleichheit, Dämlichkeit" titelte das Massenblatt Hürriyet nach der Entscheidung der Franzosen.
Proteste auf allen Ebenen
Der türkische Außenminister Abdullah Gül sprach von einer "großen Schande für Frankreich". Für den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan ist es ein "schwarzer Fleck" in der Geschichte Frankreichs. Tagelang folgten Demonstrationen vor den diplomatischen Vertretungen Frankreichs.
Berufsverbände riefen zum Boykott französischer Waren auf und Politiker forderten, dass französische Firmen, insbesondere im Rüstungsgeschäft, von staatlichen Grossaufträgen ausgeschlossen werden.
Nationalistische türkische Politiker kamen auf ganz verwegene Ideen. Die Türkei müsse sofort die illegalen Arbeitsimmigranten aus Armenien – um Zehntausende soll es sich handeln – ausweisen.
Einige forderten, ein Gesetz zu verabschieden, das Frankreichs Taten während des Algerienkriegs als Völkermord einstuft. Im Nu beschloss das Istanbuler Stadtparlament in der "Französischen Gasse" ein Denkmal zum "Unabhängigkeitskampf Algeriens" zu errichten.
Blick auf Präsidentschaftswahlen
Es waren vor allem innenpolitische Gründe, die zur Vorlage des Gesetzentwurfes in der französischen Nationalversammlung führten. Nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an und Politiker hoffen auf Stimmen aus dem Lager der armenischstämmigen Wähler.
Einige französische Politiker hofften, mit einem solchen Gesetz könne man die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU erschweren, weil man ohnehin das islamische Land nicht im Brüsseler Club sehen möchte.
Doch der französische Vorstoß stieß auch in der EU auf wenig Gegenliebe. Kommissionspräsident Manuel Barroso sprach davon, dass das Gesetz "nicht hilfreich" sei, der für Erweiterung zuständige Kommissar Olli Rehn meinte, das Gesetz schade dem gemeinsamen Ziel.
Auch in Frankreich ist das Gesetz umstritten. Renommierte Historiker, wie Jean-Pierre Azema, Mona Ozouf, Jean Pierre Vernant haben den Vorstoß des Parlaments, der dazu führe, dass der Staat eine offizielle Geschichtsdoktrin verfüge, verurteilt.
"Unschön für die Meinungsfreiheit"
In der Türkei sind es nicht nur Nationalisten und rechte Politiker, die gegen Frankreich Sturm laufen. Gegen das Gesetz, das Meinungen außerhalb der staatlichen Geschichtsauffassung strafrechtlich ahndet, wandten sich in der Türkei gerade auch diejenigen, die Verfolgung ausgesetzt waren, weil sie vom Völkermord an den Armeniern sprachen.
So der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der in einem Interview den Massenmord an den Armeniern angesprochen hatte. Im vergangenen Jahr wurde ihm der Prozess wegen "Schmähung des Türkentums" gemacht. Hässliche Szenen spielten sich vor dem Gerichtssaal ab, als faschistische Gruppen ihn mit Eiern bewarfen. Erst nach Massenprotesten im In- und Ausland wurde der Prozess eingestellt.
Befragt nach dem Pariser Gesetz fielen dem Schriftsteller Voltaire, Zola und Sartre ein: "Dieses Gesetz passt gar nicht zur freiheitlichen Tradition und zur großen französischen Kultur. Es ist unschön für die Meinungsfreiheit."
Der Verleger Ragip Zarakolu, der immer wieder Ärger mit der türkischen Justiz hatte, weil er Bücher zum Völkermord an den Armeniern publizierte, ist entsetzt. Diejenigen, die in der Türkei mutig staatliche Tabus gebrochen haben und dafür Gerichtsprozesse in Kauf nahmen, sind empört darüber, dass die Franzosen nun "falsche" Geschichtsauffassungen strafrechtlich verfolgen wollen.
Es ist ein Schlag ins Gesicht jener, die darum kämpfen, Geschichte ohne Strafrechtsparagrafen aufzuarbeiten und stärkt diejenigen, die mit nationalistischen Tabus den status quo aufrechterhalten wollen.
Sorge bei Armeniern
Auch unter den rund 70.000 Armeniern türkischer Staatsangehörigkeit ist man besorgt darüber, dass das Gesetz, das im fernen Paris beschlossen wurde, in der Türkei rechtsextreme Nationalisten stärkt. Führende Vertreter der armenischen Gemeinde protestierten.
Der Chefredakteur der in Istanbul erscheinenden armenischen Zeitschrift "Agos", Hrant Dink, den türkische Staatsanwälte belangen, weil er von Völkermord redet, spricht von einem "Skandal". Er hat angekündigt, aus Protest nach Frankreich zu reisen, um den Völkermord zu leugnen, obwohl es seiner persönlichen Auffassung widerspricht.
Auch der armenische Patriarch von Istanbul, Mesrob II., zeigt sich in einem langen Interview mit der Tageszeitung Milliyet beunruhigt: "Das neue in Frankreich angenommene Gesetz nährt die nationalistischen und rassistischen Gruppen, die den Weg des Dialoges verstopfen, ein gefährlicher Prozess wird beginnen."
Tiefe Gräben
Zwischen den Armeniern in der Türkei und den Armeniern in der Diaspora sind tiefe Gräben aufgerissen. Während für die Armenier in der Diaspora die Definition des Massakers von 1915 als Völkermord bestimmend ist, geht es den Armeniern in der Türkei zuerst einmal darum, ohne Diskriminierung den Alltag zu gestalten. Sie setzen ebenso wie der Patriarch auf bessere Beziehungen der Türkei mit dem armen Nachbarstaat Armenien.
Doch der armenisch-azerbaidschanische Konflikt um die Enklave Berg Karabach steht dem im Weg. Die Türkei, die durch die Baku-Ceyhan-Pipeline in punkto Wirtschaftsinteressen mit Azerbaidschan verflochten ist, hält seit Jahren die Grenze zu Armenien geschlossen. Die Öffnung der Grenzen und der Beginn eines armenisch-türkischen Dialoges würden gleichsam zur politischen Entspannung beitragen.
Der türkische Ministerpräsident schlug Armenien vor, dass eine Kommission, bestehend aus Historikern beider Länder, sich dem Kapitel der osmanischen Geschichte annimmt.
Das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs ist über fast ein Jahrhundert in der Türkei tabuisiert worden. Erst in den vergangenen Jahren haben türkische Intellektuelle in der Öffentlichkeit mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte begonnen.
Dass eine internationale Konferenz, an welcher auch armenische Historiker teilnahmen, trotz Drohgebärden und Verbotsversuchen in Istanbul stattfinden konnte, war ein großer Erfolg. Es wäre verheerend, würde die neu aufkeimende Debatte wegen eines französischen Gesetzes erstickt würde.
Aussicht auf Abschaffung von Paragraf 301?
Doch die Chancen scheinen nicht schlecht zu stehen. Nach dem ersten Aufruhr ist die Regierung in Ankara um Schadensbegrenzung bemüht.
Das Gesetz muss noch vom französischen Senat verabschiedet werden. Auch bedarf es der Zustimmung des Staatspräsidenten. Es spricht vieles dafür, dass es soweit nicht kommen wird.
"Wir dürfen einem Fehler nicht mit einem Fehler begegnen", meint Ministerpräsident Erdogan. So stellte Außenminister Gül in Aussicht, dass der Paragraf 301 des Strafgesetzbuches, der die "Schmähung des Türkentums" unter Strafe stellt, revidiert werden könne.
Die Abschaffung des Gesetzes gäbe ohne Zweifel jenen Auftrieb, die nicht im Schatten von Strafrechtsparagrafen die eigene Geschichte aufarbeiten wollen.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2006
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