Das Lachen, das vom Hindukusch kommt
Von Martin Gerner
In dem kleinen Raum in Kabul hängt eine Deutschlandkarte. Daneben steht ein Mann, 24 Jahre alt: Shir Khan. Mit dem Finger deutet er auf die Karte: "Die meisten Menschen in Deutschland sind Christen, auch sie haben einen Gott. Es gibt auch Muslime in Deutschland, aber viel weniger als bei uns."
Eine Gruppe von Kindern hockt aufmerksam im Schneidersitz vor Shir Khan auf dem Boden. "Was ist die Hauptstadt von Deutschland, Bonn oder Berlin?", fragt einer von ihnen. "Was ist der berühmteste Ort in Deutschland?", will ein anderer wissen.
Deutschland-Unterricht für junge Artisten
Shir Khan, von Beruf Schauspieler, der den Kleinen im Kinderzirkus Tricks und Theater beibringt, entfaltet eine große Wandzeitung, die einige der Betreuer vorbereitet haben. Es sind Bilder von Wäldern und Fachwerkhäusern, von Burgen wie Neuschwanstein darauf geklebt.
Auch Frankfurt mit seiner Skyline und Berlin. Einige der Kinder haben schon einmal etwas von der Berliner Mauer gehört, aber alle ihre Fragen an Shir Khan, warum, wie hoch und wie lange diese Mauer stand, kann der junge Mann nicht beantworten.
Die Kinder sitzen in diesen Tagen jeden Morgen in Kabul und haben improvisierten Deutschland-Unterricht. Zwölf von ihnen haben das große Los gezogen, sieben Jungen und fünf Mädchen im Alter zwischen neun und 16 Jahren. Sie gehören zu der Gruppe, die zwei Monate lang durch Deutschland und Dänemark tourt.
Eigentlich ist Deutschland ein Buch mit sieben Siegeln für alle, aber seit Wochen üben sie fleißig deutsches Liedgut: "Oh du lieber Augustin, Augustin ..." kommt es aus den Kehlen der jungen Afghanen.
"Vor drei Tagen haben sie eine Kassette mit dem deutschen Original bekommen", erklärt Berit Mühlhausen, eine von zwei ausländischen Gründern des Kinderzirkus. "Wir haben den deutschen Text in persische Lautschrift übersetzt und nach ein wenig Üben konnten sie das Lied."
Die Reise des Kinderzirkus durch Deutschland ist ein großes Abenteuer. "Die Kinder werden auf der Bühne Akrobatik zeigen und Jonglieren, Einrad fahren, auf Stelzen gehen und Clownerien vorführen", sagt David Mason, ebenfalls Gründungsmitglied.
Von Landminen, Malaria und Diarrhö
Daneben zeigt die Gruppe Ausschnitte aus Programmen, die sie in Afghanistan aufführen. Zum Beispiel "Die summende Mücke": ein Jugendlicher im grünen Ganzkörper-Overall und roten Papierflügeln am Rücken symbolisiert eine Malaria-Mücke, gegen die vier weitere Darsteller und das gespannte Kinderpublikum Schutz suchen.
Die meisten Aufführungen in Afghanistan handeln von den großen Übeln, die jungen Menschen am Hindukusch begegnen können, wie Landminen und Diarrhö. Wenn der Minizirkus vor Gleichaltrigen an Schulen spielt, tritt eine riesige weiße Hand aus Schwamm auf die Bühne.
Der Schwamm ist verdreckt, darunter steckt einer der Schauspieler. In kleinen Szenen spielt er vor, wie man sich wappnen kann: sauberes Wasser holen, die Hände einseifen und ordentlich abtrocknen, das gleiche bei Obst und Essbarem.
"Warnung vor Landminen", heißt ein weiteres Stück, das die Kinder in Deutschland auszugsweise spielen. "Wir stellen dabei keine Toten und grausamen Verletzungen nach", verrät Berit Mühlhausen, "sondern schicken einen Affen auf die Bühne, der sich mächtig wehtut".
In Wirklichkeit sterben in Afghanistan täglich Kinder weil sie auf scharf gemachte Minen treten. Mehrere Millionen dieser heimtückischen Waffen schlummern noch unmittelbar unter der Erdoberfläche. Es bräuchte rechnerisch mehr als zwanzig Jahre, sie alle zu bergen oder zu vernichten.
Der Kinderzirkus, der mit ganzem Namen 'Mobile Minicircus for Children' heißt, existiert seit zweieinhalb Jahren. Mittlerweile erhalten 80 Kinder eine künstlerische Ausbildung: von Erzählkunst und Puppentheater bis Sport und kreativem Radio-Journalismus.
Kriegstraumata überwinden, von Armut ablenken
Die andere Hälfte des Tages gehen die Kleinen zur Schule. "Wir wollen die Kinder motivieren, ihr eigenes Potential zu nutzen, ihnen Perspektiven geben und von der Armut ablenken", so Berit Mühlhausen. Über 25.000 Kinder und Jugendliche an Schulen in Kabul hat der Kinderzirkus mit seinen Aufführungen im vergangenen Jahr zum Lachen gebracht, landesweit sind es sogar geschätzte 300.000.
Diese Vorführungen helfen, Kriegstraumata und psychischen Deformationen zu begegnen. "Wenn unsere Ältesten in der Provinz spielen, passiert es schon einmal, dass ein Mullah oder ehemaliger Taliban im Publikum sitzt", erzählt David Mason. "Anfangs mit ernster Miene und verschränkten Armen, aber je länger das Programm dauert, desto mehr lösen sich ihre Züge und am Ende klatschen und lachen die Alten sogar."
Kinder, die am Minizirkus lernen, haben oft Eltern oder Familienangehörige im Krieg verloren, kennen das Flüchtlingsleid oder müssen zusätzlich zu Schule und Training für den Unterhalt der Familie arbeiten gehen.
Auch der Minizirkus selbst kennt die Erfahrung des Überlebenskampfes und ist gewissermaßen ein Abbild der afghanischen Wirklichkeit. Es fehlt chronisch an Geld, über Wasser hält sich der Zirkus durch Kurzzeit-Projekte und Service-Angebote, wie der Ausbildung von Lehrern, die hier lernen, pädagogisch besonders kreativ zu unterrichten.
Anders als die großen Hilfsorganisationen, verfügt der Kinderzirkus über kein eigenes Auto. Die Vereinten Nationen in Kabul scheinen den Wert der Kinderförderung, wie sie das Haus seit November 2003 praktiziert, noch nicht erkannt zu haben. "Die stellen große Pläne auf und reden viel, wir sind da eher praktisch orientiert", meint David Mason.
Martin Gerner
© Qantara.de 2005
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