Palmyra im Kopf
Wer an Palmyra denkt, hat gewöhnlich golden schimmernde Säulen, verfallene Tempel und die prächtige, inmitten der Wüste ruhende Hauptstraße der antiken Oasenstadt vor Augen. Doch Palmyra hat eine dunkle Seite: Die Stadt im Osten Syriens beherbergt eins der gefürchtetsten Gefängnisse des Landes – berühmt vor allem für die grausame Folter, der die Häftlinge ausgesetzt sind.
Raymond Bouban kennt sie, die Folter. In den achtziger Jahren, während des libanesischen Bürgerkriegs, verschleppten ihn die Syrer. 14 Jahre verbrachte er in den Gefängnissen des Nachbarlands, in Palmyra, später in Saidnaya, nördlich von Damaskus.
Nun sitzt der 49-Jährige, Glatze und Schnäuzer, in einem Theater in Berlin-Kreuzberg und bereitet sich auf die Show vor. "Der deutsche Stuhl" haben die acht Libanesen ihr Theaterstück genannt, das sie mit ihren Auftritten in Berlin, Stuttgart und auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg erstmals außerhalb des Libanons aufführen.
Auf dem "Deutschen Stuhl", erzählt Bouban, hätten sie alle gesessen, er selbst neunzehnmal. Beim kursi almani, wie das Foltergerät im Arabischen heißt, wird der Häftling auf ein stuhlähnliches Gerät gesetzt, das aus beweglichen Teilen besteht, mit denen die Wirbelsäule des Gefolterten überdehnt, oft gebrochen wird.
Die Methode soll über die Stasi nach Syrien gekommen sein, andere Quellen berichten, dass geflohene Nazi-Schergen die brutale Foltermethode ins Land brachten. Auf jeden Fall ist es ein passender Titel für ihr Stück, findet Bouban. Denn Folter, davon wollen sie berichten, die Überlebenden aus den syrischen Gefängnissen.
"Ich will Blut sehen"
Links auf der Bühne ist eine Gemeinschaftszelle aufgebaut, rechts drei Einzelzellen. Requisiten: Plastikeimer, aus denen die Gefangenen ihr Essen schaufeln, ein Reifen, in den ein Gefangener in verrenkter Körperhaltung hineingezwungen wird, bevor ihm die Wächter die Fußsohlen blutig peitschen, um ihn dann auf der Stelle marschieren lassen. Und natürlich der deutsche Stuhl. In diesem Fall ist es ein gewöhnlicher deutscher Stuhl, wohl aus dem Büro des Aufbau-Theaters ausgeborgt, um das grausame Foltergerät zu symbolisieren.
Theater ist das nicht. Denn abgesehen von den Wächter-Rollen spielen sich die ehemaligen Häftlinge selbst. Auch einen Plot gibt es kaum. Es ist ein Vormittag im Foltergefängnis von Palmyra, ein gewöhnlicher Vormittag, denn, wie die Männer zuvor gegenüber Journalisten erklärten, "nachmittags gab es weniger Gewalt als vormittags."
Ein Vormittag also, der zur lebensbedrohlichen Qual wird. Während sich die Häftlinge aus den Essenseimern bedienen, schlagen die Wächter mit ihren Lederpeitschen gnadenlos zu. "Hey, du lässt das Essen fallen", schreit der Oberfeldwebel, als einem seiner Opfer vor Schmerz die Schüssel aus der Hand gleitet.
Einem jüngeren Wächter, der nicht kräftig genug die Peitsche klatschen lässt, befielt er: "Ich will Blut sehen, ich will immer Blut sehen!" Ob er denn wisse, wer hier einsitze? "Gemeine, niedere Kerle, Hurensöhne, Spione!"
Trauma und Hass
Dass die Libanesen nach einer ersten Performance ihres Stücks in Beirut nun in Deutschland ihren Schrecken auf die Bühne bringen, ist Monika Borgmann zu verdanken, die das Projekt koordiniert und begleitet. Die Deutsche lebt seit Jahren in der libanesischen Hauptstadt. Man findet sie dort nicht im trendigen Beirut mit seinen Bars und Nachtclubs, sondern im ärmeren Süden der Stadt, in einem von der Hisbollah kontrollierten Stadtteil.
"Die Libanesen", sagt sie, "haben den Bürgerkrieg überhaupt nicht aufgearbeitet." Über zwei Jahrzehnte nach dem Friedensabkommen von 1989, das den offenen 15-jährigen Bürgerkrieg beendete und die Syrer de facto als Besatzungsmacht installierte, befindet sich das Land noch immer in einem Zustand der Erstarrung. "Die offizielle Politik war es, eine neue Seite aufzuschlagen." Die Vergangenheit sollte Vergangenheit sein.
Doch damit, ist Borgman überzeugt, kommt auf Dauer kein Land davon. Deshalb hat sie zusammen mit ihrem Ehemann Lokman Slim das Dokumentationsprojekt "UMAM Documentation & Research" ins Leben gerufen.
Die Aufarbeitung des Krieges steht auf dem Programm, dazu zählt auch die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen, die Syrien im Libanon verübte. Insgesamt 17.000 Menschen sollen während und infolge des Bürgerkriegs verschwunden, ein Teil von ihnen nach Syrien verschleppt worden sein. Menschenrechtsorganisationen gehen noch immer von über 600 Libanesen in den Gefängnissen des Nachbarlandes aus.
In ihrem weiträumigen Anwesen im Süden Beiruts haben Borgmann und Slim ein großes Archiv mit Dokumenten über den Krieg angelegt. Das Haus gleicht einer Bibliothek. Bücher- und Zeitschriftenregale reihen sich aneinander, dazwischen Computer, Büroräume und sogar ein eigener Ausstellungsraum.
Worte reichen nicht
Als Borgmann in Beirut auf die aus Syrien zurückgekehrten Ex-Insassen traf, die sich lose in dem Selbsthilfe-Verein "Former Lebanese Political Detainees in Syria" zusammengeschlossen hatten, seien diese immer wieder aufgesprungen, erzählt sie. Sie hätten Szenen nachgestellt und gestikuliert, um ihre grausame Vergangenheit zu veranschaulichen. Die Idee, eine Live-Performance zu machen, habe auf der Hand gelegen. "Weil Worte nicht ausreichen, um diesen Schrecken zu beschreiben", sagt Borgmann.
Nach 45 Minuten Schrecken auf der Kreuzberger Bühne stehen die ehemaligen Gefangenen mit ihrer Projektleiterin Borgmann vor dem Publikum, in ihrer Mitte Raymond Bouban, der 49-Jährige mit der Glatze und dem Schnauzer.
Nachdem er im Jahr 2000 im Rahmen einer Amnestie freikam und in den Libanon zurückkehrte, war es zwar schwierig, das Unrecht zu thematisieren, das ihnen in Syrien widerfahren war. Seit aber die Syrer das Land 2005 verlassen haben, spricht Bouban und engagiert sich in dem Selbsthilfe-Verein der Syrien-Überlebenden.
Die ganze Welt, sagt er, müsse von der grausamen Vergangenheit seiner Männer erfahren – und von der Gegenwart. "Sein Cousin", Bouban zeigt auf einen der Schauspieler, "war mit uns und ist immer noch nicht wieder da."
Wenn er die Aufführungen in Deutschland hinter sich gebracht hat, wird Bouban zu seiner Familie zurückkehren. Er hat geheiratet, zwei Kinder – Peter und John – und arbeitet als Chauffeur. Vielleicht, sagt er, wird er die Performance mit seinen Männern noch in der Schweiz aufführen. Oder in Qatar. "Aber ob wir spielen oder nicht macht eigentlich gar keinen Unterschied. Palmyra bleibt in unseren Köpfen."
Jannis Hagmann
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de