Die Farbe der Ferne - Moderne arabische Dichtung.
Als Joachim Sartorius 1995 den „Atlas der neuen Poesie“ herausgab, wurden die geographischen Konturen zeitgenössischer Weltdichtung für ein größeres Lesepublikum erstmals erkennbar. Die Anthologie lud nicht nur dazu ein, poetische Terra incognita zu betreten, sie zeichnete auch die Beziehungen und Korrespondenzen selbst entlegener Sprachräume nach. Dieses Projekt, das sein Herausgeber lediglich als einen ersten Schritt auf einem langen Weg betrachtete, hat dazu beigetragen, Rezeptions- und Produktionsprozesse zeitgenössischer Lyrik maßgeblich zu verändern. Seitdem ist vieles geschehen, nicht nur in der Politik. Im Bereich der Lyrikrezeption jedenfalls wurde – anders als andernorts – dieser Weg von Vermittlung und Verständigung konsequent fortgesetzt.
Stefan Weidners jüngst erschienene Anthologie „Die Farbe der Ferne“ ist ein wichtiger Beitrag auf diesem Weg des Dialogs internationaler Poesie. 56 Lyriker aus
unterschiedlichen Regionen der arabischen Welt werden vorgestellt, und so entsteht ein gleichermaßen anschauliches wie vielgestaltiges Bild arabischer Dichtung im 20. Jahrhundert. Die Präsentation der Autoren in der Reihenfolge ihres Alters lässt Grundzüge erkennbar werden in der Entwicklung des modernen arabischen Gedichts, das sich etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich von den traditionellen Formen löst, um sich den free verses und damit auch zunehmend der Poetisierung vormals „unpoetischer“ Gegenstände zuzuwenden. Die historischen Entwicklungslinien werden in der individuellen Textauswahl akzentuiert.
Es mag kaum wundern, dass das arabische Gedicht der Gegenwart ungeachtet seiner unterschiedlichen Komplexitätsgrade deutlich stärker politische und gesellschaftliche Bezüge aufweist als europäische Lyrik dieser Tage. Umso überraschender wird es erscheinen, dass diese Lyrik, auch wo sie sich explizit politisch äußert, kaum je plakative Züge annimmt, sondern vielmehr konsequent geprägt ist von einer tiefen Poetizität, die die Schwierigkeiten zu benennen und die Widersprüche bloßzulegen vermag, ohne eilfertige Lösungen anzubieten. „Wir halten uns über Wasser / Ohne einander zu berühren“, heißt es bei Fadwa Tuqan (geb. 1917), einer der wichtigsten Dichterinnen Palästinas. Verletzlichkeit und Gefährdung scheinen für die jüngere Generation unverändert präsent, wie im Gedicht des jungen Ägypters Nuhammad Nutawalli (geb. 1970) deutlich wird: „Der Strand ist menschenleer, / nur zwei Kinder, / die dem kummervollen Mond hinterher blicken, / dessen Schnur / ihren Händen entglitt.“ Die fragile Bildlichkeit, die allein schon ausreicht, dieser arabischen Poesie einen gebührenden Platz in der gegenwärtigen Weltpoesie zuzugestehen, wird in Stefan Weidners sensibler Übersetzung gewahrt.
Das ausführliche Nachwort zeichnet ein detailliertes Bild der Voraussetzungen und der Entwicklungslinien, der Produktions- und Rezeptionsbedingungen, der Themen und Stile zeitgenössischer arabischer Lyrik. Weidner liefert damit eine brauchbare Hilfe für das Verständnis der ausgewählten Gedichte, die sich dem europäischen Leser nicht immer leicht erschließen. Dass dabei nicht nur die spezifischen Produktionsbedingungen arabischer Literatur, sondern mitunter auch der europäischen Entwicklung überraschend ähnliche Problemstellungen sichtbar werden, gehört zu den bemerkenswerten Einblicken, die Stefan Weidners Erläuterungen freilegen.
Kein Wort der Kritik? – Doch: Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Für eilige Leser“. Die Kurzgedichte, die hier versammelt sind, hätten einen treffenderen Titel verdient. Für eilige Leser wird die arabische Lyrik ganz sicher fremd bleiben. Allen anderen aber sei die Anthologie „Die Farbe der Ferne“ schon deshalb wärmstens empfohlen, weil sie die Demarkationslinien weltpolitischer Schwarzweißmalerei nicht übertüncht, sondern gründlich dekonstruiert, – mit den Mitteln der Poesie.
Christoph Leisten
Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. Hrsg. u. übers. v. Stefan Weidner. Verlag C.H. Beck, München 2000