Politischer Stimmungstest für Erdogan
Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat bei den türkischen Kommunalwahlen Verluste hinnehmen müssen. Gleichwohl bleibt sie die mit Abstand stärkste politische Kraft im Lande.
Für den Stimmenrückgang der AKP sind viele Faktoren verantwortlich. Im Südosten der Türkei haben sich die Wähler, der Wahlgeschenke überdrüssig, der DTP zugewandt, die sich als Partei der kurdischen Identität sieht.
Bedenkt man, dass es im Südosten des Landes keine nennenswerten Parteien außer der DTP und der AKP gibt, ist das Wahlergebnis als eine Reaktion auf den Ministerpräsidenten Erdogan und die Haltung der anderen Parteien in der Kurdenfrage zu sehen.
Wie lässt sich sonst erklären, dass die Regierungspartei AKP trotz ihrer machtpolitischen Möglichkeiten, trotz der politischen Öffnung bei dieser Wahl, so wenige Stimmen bekommen hat?
Stimmenzuwachs bei den Nationalkonservativen
Die türkischen Medien begründen dies mit der globalen Wirtschaftskrise und der verspäteten Reaktion der Regierung Erdogans darauf. Schaut man sich aber industrialisierte anatolische Städte wie Kayseri, Denizli, Kocaeli, Sakarya, Bursa oder aber auch Istanbul an, wo immer noch die AKP regiert, greift diese Erklärung zu kurz.
Die AKP hat hier durchaus mit einem Rückgang der Wählerstimmen zu kämpfen, dennoch stimmten die Wähler hier nicht für die oppositionelle CHP. Die Stimmen kamen den Parteien zu Gute, die sich im Wahlkampf noch konservativer und nationalistischer als die AKP gaben.
Beispiel MHP: Der Aufstieg der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist den aufgestellten Bürgermeisterkandidaten, also Individuen, und nicht der Partei insgesamt zu verdanken.
Zudem lässt sich erkennen, dass sich die MHP von der kompromisslos-nationalistischen Gesinnung zu einer Partei der Mitte entwickelt hat. Türkische Wähler messen dieser Tatsache mehr Bedeutung zu als irgendwelche konfliktbeladene, parteipolitische Geplänkel.
Natürlich haben auch die AKP mit ihrer Kurdenpolitik sowie die DTP mit ihren wahlbedingten Aussagen zur kurdischen Identität die Wähler in die Arme der MHP getrieben.
CHP und DTP als regionale Parteien
Trotz ihrer viel diskutierten linken Identität übt die CHP - abgesehen von wenigen Städten - kaum Anziehungskraft aus, sie stellt deshalb auch keine politische Alternative dar.
Beispiel Izmir: Die Stadt war zweifellos ein entscheidender Dreh- und Angelpunkt der Kopftuchdiskussion, die im Kommunalwahlkampf - außer in Izmir - eigentlich keine Rolle spielte. Fraglich ist, ob die CHP Stimmen aufgrund ihrer linken Ausrichtung bekommen hat oder ob sie von einer eigentlich traditionellen, rechtsliberalen Klientel gewählt wurde, die ihren modernen Lebensstil nicht verändern wollte und neben der CHP keine Alternative für sich sah.
Istanbul nimmt hier wohl einen ganz besonderen Platz ein: Hätte man nicht erwarten können, dass diese Stadt, in der mittlerweile etwa 25 Prozent der türkischen Bevölkerung lebt und die ein Magnet der inländischen Migration darstellt - eine kosmopolitische Stadt, die für Menschen aus dem Osten des Landes das Westliche symbolisiert, die Stimmenverteilung des Landes etwas angemessener repräsentiert?
Zweifellos ist die Regierungspartei auch dort erfolgreich gewesen. Doch ist der Misserfolg der DTP in dieser Stadt mit ihrem hohen kurdischen Bevölkerungsanteil offensichtlich. Während sich die CHP also fragen muss, wieso sie nicht im Südosten des Landes wirklich vertreten ist, so muss sich die DTP fragen, wieso sie ausgerechnet in Istanbul keine nennenswerten Ergebnisse erzielen konnte.
Vorgezogene Neuwahlen unwahrscheinlich
Bereits nach Bekanntgabe der vorläufigen Ergebnisse der Kommunalwahlen, war Erdogan der erste Parteiführer, der das Wort ergriff. Der Ministerpräsident gab sich gelassen, nachdenklich und nicht angriffslustig. Jedoch deutete er eine Kabinettsumbildung an, die nun mit Spannung erwartet wird.
Auch stellt sich die Frage, ob vorgezogene Neuwahlen stattfinden sollen. Doch wem käme das zu Gute? Die gegenwärtige politische Lage spricht eine deutliche Sprache: Niemand würde derzeit von vorgezogenen Parlamentswahlen profitieren.
Zwar hat die Kommunalwahl gezeigt, dass auch die AKP nicht vor einer Niederlage gefeit ist. So könnten vorgezogene Wahlen mit einer besser und straffer organisierten Opposition die AKP womöglich viele Stimmen kosten. Da aber auch die globale Wirtschaftskrise nun die Türkei erreicht hat, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Regierungspartei vorgezogene Wahlen entschieden ablehnt.
Allerdings hat auch die Opposition bei der Kommunalwahl keine gute Figur gemacht. Gewiss konnte sie ihren Stimmenanteil erhöhen, dennoch steht fest, dass beispielsweise die CHP außer dem Erfolg ihrer drei Kandidaten in Großstädten sogar einen Stimmenrückgang zu verzeichnen hatte.
Richtungswechsel im EU-Kurs?
Die zweite wichtige Frage lautet: Wird die Regierung ihren EU-Kurs beibehalten? Werden die Reformen für eine internationale Öffnung des Landes weitergehen?
Auch steht eine historische Entscheidung an: die mögliche Öffnung der Grenze zu Armenien, um einem möglichen Beschluss des US-Repräsentantenhauses zuvorzukommen, das am 24. April den Völkermord an den Armeniern anerkennen möchte.
Nicht zuletzt erwartet die Türkei intensive internationale Wirtschaftskonsultationen, in deren Mittelpunkt sich die EU befindet, um Auswege aus der Wirtschaftskrise zu finden.
Pessimistisch gesehen, könnte man alle Maßnahmen in dieser Richtung als ein Sprungbrett für die noch konservativeren und nationalistischen Oppositionsparteien MHP und SP (Saadet-Partei) sehen.
Sollten sich die Türkei sich vor diesen neuen Herausforderungen drücken, würde dies eine neuerliche Isolation bedeuten, die Risiken der weltweiten Wirtschaftskrise erhöhen und neue nationale Risiken hervorbringen.
Kurzfristig wird die Regierung an ihrer Realpolitik wohl festahlten. Die Besuche Erdogans, Baykals und Güls in Brüssel zeugen von einer Entschlossenheit, den bisherigen EU-Kurs der Türkei weiter beizubehalten.
In diesem Zusammenhang wird Zypern wieder eine zentrale Rolle spielen. Doch wäre wünschenswert, wenn auch die EU-Staaten gemeinsam an einer Lösung arbeiten würden und nicht alle Forderungen auf die Türkei fokussieren würden.
Dies käme sonst denjenigen gelegen, die ohnehin dieses Problem auf die lange Bank schieben und aufgrund der anhaltenden Verzögerung die Türkei von einer Vollmitgliedschaft ausschließen wollen.
Can Baydarol
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Türkischen von Atilla Azrak
Can Baydarol studierte politische Wissenschaften an den Universitäten Ankara und Bogaziçi in Istanbul. Zu seinen inhaltlichen Schwerpunkten zählen u.a. die Beziehungen der Türkei zur EU, Europäisches Recht sowie der Europäische Integrationsprozess.
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