Kulturen sind keine politischen Gebilde
Ridwan as-Sayyid, einer der bedeutendsten arabischen Intellektuellen, war Teilnehmer einer Konferenz über die arabische Kultur Anfang Juni in Kairo unter dem Motto "Für einen neuen Kulturdiskurs – von den Herausforderungen der Gegenwart zu künftigen Horizonten". Im Auftrag von Qantara.de führte Nelly Yussef mit ihm das folgende Interview.
Dr. as-Sayyid, nach dem Sturz des Saddam-Regimes können wir feststellen, dass die Reaktionen der arabischen Intellektuellen auf die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Situation im Irak äußerst zurückhaltend sind. Warum beispielsweise rufen die neu entdeckten Massengräber Ihrer Meinung nach keine deutlichen Stellungnahmen seitens der Intellektuellen hervor?
Ridwan as-Sayyid: Ich sehe im Gegenteil, dass die Reaktionen der arabischen Intellektuellen auf die Ereignisse im Irak und in Palästina so heftig sind, dass sie ein objektives Denken und die Suche nach Alternativen verhindern. Mit anderen Worten: Bei den arabischen Intellektuellen ist derzeit kein Raum für andere Gedanken als den Kampf gegen die Amerikaner und die Israelis, dass ihre Vertreibung vom arabischen Boden unabdingbar ist und dass dieses Ziel mit allen Mitteln, notfalls mit Selbstmordanschlägen, erreicht werden muss. Der bewaffnete Widerstand ist inzwischen die Methode, auf die 80% der arabischen Intellektuellen setzen. Ihre Reaktion ist also vielmehr gewaltig und befördert einen blinden Hass, der die Sicht auf eine andere Aufgabe der Intellektuellen verschleiert, die nicht weniger wichtig ist, nämlich die Beobachtung des Status quo und der Versuch, Alternativen aufzuzeigen, die die Ziele dieses Kampfes in erreichbare Nähe rücken und sich damit von den gegenwärtigen Methoden unterscheiden.
Meiner Meinung nach legen meine arabischen Kollegen fast zu großen Eifer an den Tag, es trifft auch nicht zu, dass sie die Augen vor den Massengräbern verschließen. Die meisten arabischen Intellektuellen, sagen wir einmal 70 %, standen nicht hinter Saddam Hussein. Wir wussten von den Massengräbern und haben sie verurteilt. Wir thematisierten sie seit 1981, seit dem irakisch-iranischen Krieg, auch die Gräueltaten des irakischen Regimes, die katastrophalen Umstände, in die es das Land stürzte, brachten wir zur Diskussion. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es noch andere arabische Regierungssysteme gibt, die nicht weniger kriminell sind. Wenn es aber um die Besetzung des Landes durch die Amerikaner geht, so bleibt dem Intellektuellen, der ja zum Widerstand gegen diese Besetzung aufruft, kaum die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit auf das Gemetzel und die Massengräber zu richten, denn der Widerstand gegen die amerikanische Besetzung hat jetzt Priorität.
Wie erklären Sie die Solidarität vieler arabischer Intellektueller mit den Symbolen des alten Regimes? Sie sprechen sogar voller Stolz vom "irakischen Widerstand"! Sind dies Anzeichen für einen totalen Bankrott, den die arabischen Intellektuellen gegenwärtig erleben?
as-Sayyid: Tatsächlich blicke auch ich voller Stolz auf den irakischen Widerstand, aber ich glaube, dass eine der Aufgaben dieses Widerstands jetzt vor allem ist, Saddam Hussein und seine Schergen zu suchen und zu töten, damit kein Makel an diesem Widerstand haften bleibt und um die amerikanische Behauptung zu entkräften, der Widerstand gehe auf Saddams Helfer, den Rest seines Gefolges zurück – was Unsinn ist. Hätten Saddam und die Seinen wirklich Widerstand leisten wollen, hätten sie den Irak gegen den amerikanischen Angriff verteidigt. Stattdessen aber ist die Armee zusammengebrochen, die Verwaltung ist zusammengebrochen, die Baathisten sind geflohen, und geflohen ist auch Saddam, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Wir selbst müssen ihn töten, denn wenn die Amerikaner es tun, würde man ihn zum Märtyrer deklarieren. Das darf nicht passieren, jemand wie Saddam darf nicht als Märtyrer verehrt werden.
Was den angesprochenen Bankrott betrifft, so muss ich Ihnen Recht geben, wir haben ein Problem. Die arabischen Regime bedürfen nämlich der Intellektuellen nicht mehr in dem Maße, wie das während der Ära des Kalten Krieges der Fall war. Der einen von uns hatten für Amerika zu klatschen, die anderen für die Sowjetunion. Als aber der Kalte Krieg vorbei war, gerieten alle unter den Einfluss der Vereinigten Staaten, man hatte uns nicht mehr nötig, man betrachtet den Intellektuellen jetzt mit Geringschätzung, denn welchen Nutzen haben wir für einen Herrscher, der genau weiß, wo die Mächtigsten sitzen.
Darüber hinaus hängt der Bankrott der Intellektuellen, unter dem wir leiden, mit der Schwäche unserer Struktur zusammen, denn in der Gesellschaft bilden wir eine noch junge Gruppe, noch ohne gesellschaftliche Verwurzelung. Wenn wir verschwinden und mit uns die Universitäten in der arabischen Welt, dann weint uns keiner eine Träne nach, denn die Reichen schicken ihre Söhne ins Ausland, und um die Bildung der ärmeren Gesellschaftsschichten schert sich sowieso keiner. Während meiner Arbeit an der Libanesischen Universität, die 70.000 Studenten hat, habe ich erfahren, dass keiner von ihnen eine ordentliche Ausbildung bekommt, und die gleiche Situation besteht an den Universitäten der anderen arabischen Länder. Unsere strukturelle Schwäche rührt daher, dass wir keine grundsätzliche Aufgabe in der Gesellschaft haben. Wir schaffen es nicht, uns für die Gesellschaft unentbehrlich zu machen.
Eine weitere Schwäche ist das Desinteresse, uns selbst und unser Wissen weiter zu entwickeln. Wir müssen offen sein und gebildet, denn wir produzieren nicht mit dem Bauch, sondern mit dem Verstand. Und dieser Verstand braucht Wissen.
Würden Sie sagen, dass wir die Epoche der „Kultur der Niederlage“ erleben oder die „Niederlage der Kultur“?
as-Sayyid: Die Kultur kann niemals eine Niederlage erleiden. Die größte Blütezeit der Kultur erleben wir gerade heute. Unser Zeitalter ist sehr reich an Gedanken, an Büchern und Kenntnissen, an die ganz einfach heran zu kommen ist. Wir haben großes Glück, dass wir in dieser Epoche leben, nicht als Araber, sondern als Menschen allgemein. Alles, was wir brauchen, ist eine Grundausstattung bestehend aus Computer, Internetzugang und einigen Fremdsprachenkenntnissen, außerdem die Zusicherung eines gewissen Mindestlohns, der uns den Kauf neuer Bücher ermöglicht.
Einer der Hauptgründe für die Rückständigkeit der arabischen Welt ist das Rentier-System. Reicht dieser wirtschaftliche Faktor zur Erklärung der Rückständigkeit auf politischer Ebene und des Mangels an Demokratie aus?
as-Sayyid: Die Idee dieses Rentier-Systems, das ging Rashid al-Barawi vor langer Zeit so genannt hat, fand die Zustimmung anderer, nicht-arabischer Ökonomen. Mir gefällt diese Idee überhaupt nicht, weil sie behaupten, dass die arabischen Länder kein Wachstum realisieren werden, weil sie sich auf ihre Rohstoffe stützen, die das Ausland importiert und gewinnbringend verarbeitet, während wir mit diesen Rohstoffen leben, und doch zeichnet sich kein Fortschritt, kein Wachstum bei uns ab. Diese Sichtweise ist nicht richtig, wenn wir vergleichen, wo wir am Anfang des 20. Jahrhunderts standen und wo wir heute stehen. Tatsache ist doch, dass unsere ganz eigene sozio-ökonomische Struktur vielen Veränderungen unterlag, von denen einige durchaus positiv sind. Die heutigen politischen Systeme, beziehungsweise schon während der letzten dreißig Jahre, haben sich allerdings mehr und mehr zu einem Hindernis für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt der Araber entwickelt.
Schauen wir uns zum Beispiel einmal den ostasiatischen Raum an. Dort wurde das Wirtschaftswachstum entweder aus eigener Kraft erzeugt, oder auf dem Wege von Zuwendungen der öffentlichen Hand. Was hingegen unseren Staat betrifft, so behindert er das Wachstums sogar im privatwirtschaftlichen Sektor, dazu kommt noch die mörderische Korruption im öffentlichen Sektor. Das Problem liegt also nicht im öffentlichen und privaten Wirtschaftssektor, sondern im Staat und seiner Verwaltung. In einem funktionierenden und transparenten Staatswesen, in dem sich die Korruption in Grenzen hält, gäbe es auch Wachstum. Aber bei uns bleibt der Herrscher fünfzig Jahre an der Macht, im Inneren gestützt durch seine Sicherheitskräfte und das bestürzende Ausmaß der Korruption, im Ausland erfährt er Unterstützung durch die Amerikaner oder andere Nationen, die die Stabilisierung der Machtverhältnisse im jeweiligen Gebiet beabsichtigen. Daher wird von uns behauptet, unsere Gesellschaften seien rückständig und unfähig, sich zu entwickeln.
Was muss die arabische Elite also in der jetzigen Situation tun?
as-Sayyid: Unsere wichtigste Aufgabe ist es, einen politischen Wechsel in den arabischen Ländern zu erreichen. Als arabische Intellektuelle müssen wir kämpfen, und zwar auf zwei Ebenen: wir müssen gegen den Kolonialismus kämpfen, im Irak und in Palästina, und für die Befreiung von der Diktatur. Dieser zweite Kampf ist unsere vornehmliche Aufgabe.
Wie beurteilen Sie die Erklärung zum Abschluss der in Kairo abgehaltenen Konferenz "Für einen neuen Kulturdiskurs – von den Herausforderungen der Gegenwart zu künftigen Horizonten"? Darin wird alle Schuld dem gegenwärtigen religiösen Diskurs angelastet.
as-Sayyid: Ich stimme weitestgehend zu, dass der gegenwärtige religiöse Diskurs seine Fehler hat, distanziere mich aber von der Vorstellung, dass der Erneuerung des religiösen Diskurses daher Priorität zukommt. Gewiss, der religiöse Diskurs, das religiöse Denken überhaupt müssen sich ändern, aber die Werkzeuge und Methoden, die für ihre Veränderung taugen, sind andere als jene, die man für kulturelle, politische und andere gesellschaftliche Veränderungen braucht. Die religiöse Reform kann höchstens auf lange Sicht stattfinden und darf uns keinesfalls von unserem primären Problem ablenken, nämlich der politisch festgefahrenen Situation, den Diktaturen, dem Terrorismus und dem mangelnden Wachstum. All dies sind Probleme, die nichts mit der Religion oder den Islamisten zu tun haben. Der radikale Islam ist aus dem Versagen der Machthaber und der Diktaturen erst entstanden, er ist alles andere als der Kern des Problems.
Seit dem 11. September nehmen die Bemühungen zur Förderung des Dialogs zwischen der islamischen Welt und Europa ständig zu. Welcher Dialog könnte der gegenseitigen Annäherung der beiden Kulturen dienen?
Ridwan as-Sayyid: Es gibt keinen Kampf oder Dialog zwischen Kulturen, denn Kulturen sind keine politischen Gebilde. Solches Denken lehne ich ab. Meiner Meinung nach gibt es politische, wirtschaftliche und kulturelle Probleme zwischen uns und den Amerikanern und den Europäern, die wir als solche miteinander diskutieren und nicht zu einem Diskussion zwischen der islamischen und der westlichen Welt stilisieren sollten.
Das Interview führte Nelly Yussef
Übersetzung aus dem Arabischen von Stefanie Gsell
© 2003, Qantara.de
Ridwan as-Sayyid, geboren 1949 im Libanon, studierte an der Al-Azhar Universität und promivierte an der Universität in Tübingen. Er ist Professor für Islamische Studien an der Libanesischen Universität.