Mohamed Choukri tot
Zu der Beerdigung Mohamed Choukris, der in seiner Heimatstadt Tanger beigesetzt wurde, war selbst Marokkos Kulturminister, Mohamed Aschaari, angereist, und König Mohamed VI ließ öffentlich ein Kondolenzschreiben verlesen. Die hohen politischen Ehren überraschen, denn Choukri galt lange als "enfant terrible", dessen Bücher, darunter sein Welterfolg "Das nackte Brot", bis vor wenigen Jahren in Marokko verboten waren. Doch nun ist das offizielle Marokko auf den Toten stolz.
Marokkos "Hommes de lettres" beklagten den "Verlust des freien Geistes Choukri", der "militant, wenn auch gewaltlos, für das Recht auf Anderssein" eingetreten sei. Die Stadt Tanger habe ihren Botschafter verloren, die Marokkaner ihr Gewissen. "Choukri war die Stimme der Stimmlosen."
Weltberühmte Armut
Choukri war durch seinen autobiographischen Roman "Das nackte Brot" weltberühmt geworden. In ihm schildert er seine Kindheit: Bittere Armut, die Familie ist dem gewalttätigen Vater ausgeliefert, der Mohameds Bruder eigenhändig erwürgt. Im Schreiben ließ er sich Schriftstellern wie Jean Genet, Tennessee Williams, Samuel Beckett und Paul Bowles inspirieren, die er in den 60er Jahren in Tanger kennen lernte. Seinen Stil, der auf kurzen, nüchternen Sätzen beruht, nannte Choukri "telegraphisch".
Bis zu seinem 21. Lebensjahr war der Schriftsteller ein Analphabet. Erst während eines Gefängnisaufenthaltes lernte er lesen und entdeckte dadurch eine neue Welt. Über 4.000 Bücher soll er daraufhin gelesen haben. Der extrem unterschiedlich zusammengesetzten marokkanischen Gesellschaft hielt er in seinen Schriften schonungslos den Spiegel vor und polarisierte die Meinungen. So spielte Choukri mit dem Image des Gangsters, Alkohol, Haschisch und Prostituierte begleiteten sein Leben. Der Außenseiter weigerte sich aus Prinzip, zu heiraten, kritisierte das bestehende Verhältnis zwischen Mann und Frau in Marokko als eine der Ursachen der Verelendung der Gesellschaft und schockierte seine Leser, weil er auch das Tabuthema Sex in seinen Büchern unchiffriert anging.
Auf der Todesliste
"Choukri nennt die Dinge beim Namen", sagten seine Fans. Seine Werke blieben jedoch lange verboten, religiöse Fundamentalisten setzten ihn gar auf eine Todesliste. "Darf man wirklich alles sagen?", wurde er einmal von einem marokkanischen Journalisten gefragt. "In Marokko darf man nicht", so Choukris Antwort. "Es gibt in Marokko eine sehr konservative Fraktion, die meine Werke als pervers einstuft. Dabei steht in meinen Büchern nichts von Religion oder Politik. Die Konservativen macht wütend, dass ich meinen Vater kritisiere. Der Vater aber ist in der arabisch-islamischen Gesellschaft heilig." Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun versuchte sich auf Choukris Beerdigung mit den versöhnlichen Worten: "Choukri hat sein Leben der Lektüre und dem Schreiben gewidmet, um die Verletzungen, die er erlitt, zu verarbeiten."
Manche werfen Choukri allerdings vor, sein Leiden übertrieben theatralisch in Szene gesetzt zu haben. "Er hat vor vielen Jahren in meiner Schule als Lehrer gearbeitet", erzählt etwa der Portier des Hotels "Minzah" in Tanger. "Davon berichtet er nichts in seinen Büchern."
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2003